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31.03.2017
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THE JESUS AND MARY CHAIN

"Es wäre perfekt, wenn man sein Gehirn ans Equipment anschließen könnte"

The Jesus And Mary Chain
Bahnbrechend - das ist das Wort, das The Jesus And Mary Chain am besten beschrieb, als sie Mitte der 80er erstmals mit herrlich wildem Radau auf sich aufmerksam machten. Denn selbst The Velvet Underground hatten nicht solch intensive Feedbackorgien auf das nichtsahnende Publikum losgelassen wie die beiden Brüder Jim und William Reid aus dem schottischen East Kilbride. Ihre frühen Konzerte, oft kaum länger als 20 Minuten, endeten regelmäßig im Chaos, und ihre frühen Platten, allen voran das Debüt "Psychocandy" von 1985, sind auch all die Jahre später in ihrer Radikalität unerreicht. Ende der 90er gingen Jim und William nach dem Album "Munki" im (bisweilen auch in der Öffentlichkeit handgreiflich ausgetragenen) Streit auseinander, erst 2007 fanden sie zumindest auf der Konzertbühne wieder zusammen. Ein neues Album der Fuzz-Pop-Legende erscheint allerdings erst jetzt. Das gleiche ungläubige Staunen, mit dem Medien und Fans ihren Frühwerken begegneten, wird "Damage And Joy" sicher nicht auslösen, trotzdem ist das Album ein paar Klassen besser als die meisten anderen Comeback-Platten der Alternative-Rock-Elite der 80er und 90er. Denn auch wenn Jim und William hier oft nicht viel mehr machen, als all ihre Markenzeichen vergangener Zeiten zu bedienen, tun sie das doch mit einem Verve, der vielen Kollegen in den besten Jahren inzwischen abgeht. Die Freude an der Konfrontation und die unbändige Liebe zum Rock'n'Roll sind in dieser bis heute einzigartigen Band auch nach mehr als 30 Jahren noch quicklebendig.

GL.de: Fangen wir vorne an: Überrascht es dich manchmal, dass eine Platte wie euer Debüt "Psychocandy" auch nach mehr als 30 Jahren immer wieder von neuen Generationen entdeckt wird?

Jim Reid (lachend): Wenn ich jetzt nein sage, klinge ich eingebildet, oder? Als wir damals "Psychocandy" aufnahmen, hatten wir tatsächlich keine Platte nur für das Jahr 1985 vor Augen, sondern auch eine für die Zukunft. Der Grund dafür war, dass wir damals vor allem Bands hörten, die schon lange nicht mehr existierten. So etwas wollten wir auch erreichen. Wir wollten sein wie die 13th Floor Elevators, The Velvet Underground oder all die anderen Garagen-Punk-Bands. Wegwerfmusik zu machen, die nur für die Zeit bestimmt ist, in der sie entstanden ist, wäre uns nie in den Sinn gekommen. Es war zumindest unsere Hoffnung, dass sich junge Außenseiter 20, 30 Jahre später "Psychocandy" anhören würden, so wie wir damals die Musik der 60er.

GL.de: Ist das ein seltsames Gefühl, wenn ihr heute bisweilen im gleichen Atemzug wie eure damaligen Idole wie die Velvets oder Television genannt werdet?

Jim Reid: Oh, passiert das? Was soll ich sagen, wenn das wirklich so ist, dann ist unser Traum wahr geworden (lacht)!

GL.de: Wenn du zurückdenkst - was macht bei der Mary Chain den größten Unterschied zwischen heute und, sagen wir mal, 1985 oder 1998?

Jim Reid: Damals haben wir ständig Kompromisse machen müssen, wenn auch nicht musikalisch. Jetzt sind wir es, die das Steuer in der Hand haben, und deshalb ist alles viel relaxter.

GL.de: Die fast zehn Jahre Pause haben euch also gutgetan?

Jim Reid: Nun, was mir damals überhaupt nicht klar war und erst Jahre später bewusst wurde: Wir hätten die Band damals überhaupt nicht auflösen müssen. Wenn unser Management oder jemand anders aus unserem Umfeld damals etwas smarter gewesen wäre und dafür gesorgt hätte, dass William und ich uns mal ein Jahr nicht sehen, dann hätten sich unsere Probleme vermutlich in Luft aufgelöst. Stattdessen hat uns irgendein Idiot auf eine beschissene Tournee in Amerika gebucht, die zwei Monate dauern sollte. Wir saßen da also zusammen in einem Tourbus in Amerika und haben uns gegenseitig gehasst. Es dauerte nur ein paar Tage, bis die Situation explodierte.

GL.de: Auf Tour könnt ihr euch nur schwerlich aus dem Weg gehen, eine Platte kann man dagegen, gerade heute, auch bequem aufnehmen, ohne sich ständig auf den Füßen zu stehen...

Jim Reid: Eigentlich stimmt das, bei uns ist es aber trotzdem anders herum. Auch wenn man heute Platten räumlich getrennt voneinander aufnehmen kann - die Art und Weise, wie wir arbeiten, verlangt danach, dass wir gemeinsam im Studio sind. Das ist auch der Grund, warum die Platte so lange auf sich hat warten lassen Ich befürchtete, wir würden wieder ins Fahrwasser von "Munki" zurückkehren. Deshalb habe ich mich lange dagegen gesträubt.

GL.de: Wie kamst du zu der Überzeugung, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist?

Jim Reid: Nun, ich wusste nicht, ob es der richtige Zeitpunkt war, aber ich wusste, dass schon so viel Zeit vergangen war, dass wir es einfach angehen mussten oder sonst Gefahr laufen würden, dass es nie wieder eine Mary-Chain-Platte geben würde - und das war für mich keine Option. Irgendwann wurde mir klar, dass es noch schlimmer wäre, es gar nicht erst versucht zu haben. Also bin ich zu William gegangen und habe ihm gesagt: "Ich bin bereit, lass es uns angehen!"

GL.de: Was müsst ihr heute tun, um in die richtige Geisteshaltung für die Mary Chain zu kommen? Früher waren es Drinks und Drugs, aber das ist heute anders, oder?

Jim Reid: Um ganz ehrlich zu sein - ich habe immer noch ein Alkohol-Problem. Im Moment trinke ich nicht, aber es ist ein fortwährender Kampf. Während der Aufnahmen zum Album hatte ich einen Rückfall, aber glücklicherweise hat es die Arbeit nicht belastet. Wir haben dieses Mal im Studio überhaupt nicht gestritten.

GL.de: Anfangs war eure Herangehensweise nicht zuletzt deshalb sehr unbekümmert, weil ihr nicht wusstet, wie das Musikbusiness läuft. Ihr habt einfach instinktiv gehandelt. Wie geht ihr jetzt mit all dem Wissen um, das ihr über die Jahre angesammelt habt?

Jim Reid (lachend): All das Wissen? Welches Wissen? Im Studio zu sein, ist eine Art alchemistischer Prozess, den niemand so recht versteht, die Musiker eingeschlossen. Das hat sich in all den Jahren für uns nie geändert. Unsere Zeit im Studio kann sehr bereichernd, aber auch sehr, sehr frustrierend sein. Es wäre perfekt, wenn man sein Gehirn ans Equipment anschließen könnte. Leider klappt das nicht. Deshalb musst du deine Ideen filtern, durch das Equipment, von dem du oft nicht hundertprozentig weißt, wie es funktioniert, und durch die Menschen im Studio, die Toningenieure und in diesem Fall den Produzenten. Ein Studioaufenthalt ist immer dann die Hölle, wenn du den Leuten um dich herum deine Ideen nicht vermitteln kannst und sie allein nicht eingefangen bekommst.

GL.de: Allerdings ist es auch bewiesen, dass die Hörer oft gerade auf die glücklichen Zufälle, die kleinen Fehler stärker reagieren als auf glatte Perfektion.

Jim Reid: Nun, der Hörer weiß ja nicht unbedingt, was Zufall und was Intention war. Allerdings hast du vollkommen recht. Bei unseren Aufnahmen hat es immer eine Menge glücklicher Zufälle gegeben. Du scheiterst kläglich an dem Versuch, deine Idee umzusetzen, aber am Ende stellst du fest: Moment mal, das, was da herausgekommen ist, gefällt mir sogar noch besser! Das passiert, aber es funktioniert nicht immer.

GL.de: Wie lange hat es gedauert, bis ihr bei den Sessions wusstet: Das klappt, das wird gut? Immerhin habt ihr - sozusagen sicherheitshalber - mit Youth erstmals überhaupt einen Produzenten engagiert...

Jim Reid: Das war praktisch von Anfang an klar. Youth hatten wir eigentlich vor allem dazugeholt, um jemanden dabeizuhaben, der uns im schlimmsten Fall den Kopf zurechtrückt und uns zurück in die Spur bringt. Er schlug vor, dass wir erst einmal nur ein paar Stücke aufnehmen sollten, damit wir seine Arbeitsweise kennenlernen konnten, und es lief sofort alles bestens. Wir haben uns so gut verstanden wie schon sehr lange nicht mehr.

GL.de: Ihr habt zwar auch in der Vergangenheit schon Duette mit weiblichen Sängerinnen aufgenommen - unvergessen "Sometimes Always" mit Hope Sandoval -, trotzdem kommt es für viele sicherlich etwas überraschend, dass es auf "Damage And Joy" gleich ein halbes Dutzend davon gibt, bei denen euch Isobel Campbell, Sky Ferreira, eure Schwester Linda Fox und Williams Freundin Bernadette Denning unterstützen...

Jim Reid: Ursprünglich hatten wir mal geplant, ein komplettes Duett-Album aufzunehmen, aber irgendwann haben wir uns dann von der Idee verabschiedet, aber da hatten wir schon eine ganze Menge Duette aufgenommen. Also haben wir uns gesagt: Warum verwenden wir sie nicht einfach trotzdem auf der Platte? Wir lieben Nancy & Lee oder Sonny & Cher, also warum nicht?

GL.de: "Eine gute Platte mit 22 zu machen, ist schon eine Errungenschaft, mit Mitte 50 grenzt es dagegen an ein kleines Wunder", hast du kürzlich einmal gesagt. Fallen dir Beispiele für Künstler ein, die das Wunder mit Mitte 50 vollbracht haben?

Jim Reid: Viele sind es nicht, aber es gibt sie. Neil Young ist jemand, der immer noch tolle Alben macht, und die Stooges machen vielleicht keine umwerfenden Platten mehr, aber es ist großartig, dass sie immer noch rausgehen und touren und dabei fucking amazing klingen. Doch auch wenn uns bewusst war, dass es nur wenige leuchtende Beispiele gibt, haben wir uns davon nicht aufhalten lassen. Wenn unsere Platte fürchterlich geworden wäre, hätten wir sie einfach nicht veröffentlicht.

GL.de: Es heißt, dass man 20 Jahre hat, die Songs für sein erstes Album zu sammeln, aber dann immer nur zwei für jedes weitere. Ihr hattet nun erneut rund 20 Jahre Zeit. Hat sich das auf die Platte niedergeschlagen?

Jim Reid: Mehr oder weniger! Wir hatten dieses Mal einfach mehr Songs, aus denen wir auswählen konnten. Es ist jetzt schon eine Doppel-LP, aber es hätte auch gut und gerne eine Vierfach-LP daraus werden können, wenn wir das gewollt hätten! Wenn die Nachfrage dafür da ist, werden wir eine weitere Platte machen - und nicht erst in 19, 20 Jahren! Denn jetzt, da wir eine Platte erfolgreich aufgenommen haben, ist die Angst verschwunden, dass wir uns wieder in die Haare kriegen.

GL.de: Was kommt dir zuerst in den Kopf, wenn wir dich nach dem Karrierehighlight aus mehr als 30 Jahren Mary Chain fragen?

Jim Reid: Ich weiß nicht, ob das wirklich ein Karrierehighlight ist, aber als wir uns 2007 wieder zusammenschlossen, wurden wir eingeladen, in der Fernsehshow von David Letterman aufzutreten. Es fühlte sich irgendwie seltsam an, weil wir so lange weg vom Fenster waren, aber wir nahmen unsere Mutter mit und sie saß im Publikum, konnte Letterman treffen und hatte die Zeit ihres Lebens in New York. Fünf Monate später ist sie dann gestorben, deshalb ist das so eine großartige Erinnerung für mich.

GL.de: Und was war der peinlichste Moment?

Jim Reid (lachend): Oh, darüber könnte ich ein ganzes Buch verfassen, es gab so viele... Vielleicht dieser: Eine der größten Shows, die wir 1985 gespielt haben, fand im Santa Monica Civic Center statt. Wir waren völlig aus dem Häuschen und dachten, jetzt sind wir Stars! Ich schmiss mich also in meine Lederhose und meine spitzen Schuhe mit dem Blockabsatz, ging raus auf die Bühne, rutschte auf einem feuchten Fleck aus und landete vor all den Leuten voll auf meinem Arsch! Das war ziemlich fürchterlich, aber es war nur einer von vermutlich 1.000 Momenten, es würde sich also wirklich lohnen, daraus ein Buch zu machen!

GL.de: Letzte Frage: Was macht dich derzeit als Musiker am glücklichsten?

Jim Reid: Dass ich mit 55 immer noch dabei bin und Musik mache und mit Menschen wie dir über meine Band reden kann - das macht mich glücklich!

Weitere Infos:
thejesusandmarychain.uk.com
facebook.com/JesusAndMaryChain
Interview: -Simon Mahler-
Foto: -Steve Gullick-
The Jesus And Mary Chain
Aktueller Tonträger:
Damage And Joy
(Rykodisc/ADA/Warner Music)
 

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