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NEAL CASAL
 
Wunschlos glücklich
Neal Casal
"No Wish To Reminisce" (etwa "kein Wunsch wehmütig zurückzublicken") heißt das neue Solo-Album von Neal Casal. Das freilich ist mit einem leichten Augenzwinkern zu verstehen, denn die meisten der melancholisch angehauchten Tracks beschäftigen sich durchaus mit wehmütigen Rückblicken auf verflossene Beziehungen und Möglichkeiten. So war das allerdings auch nicht unbedingt zu verstehen. Neal ging mit dieser Scheibe musikalisch neue Wege, stellte seine Akustik-Gitarre in die Ecke und beschloss, sich vom Image des grüblerischen Folk-Barden zu lösen, dem er lange Zeit zugearbeitet hatte. Das alles begann mit einem Song namens "Ocean View" auf seiner letzter "richtiger" Solo-Scheibe "Anytime Tomorrow", bei dem Neal erstmals begann, das alte Format aufzubrechen und in so eine Art psychdelischer Beach-Boys Welt abzutauchen.
"Ja, das stimmt", bestätigt Neal, "'Ocean View' war für mich definitiv der Ausgangspunkt für das neue Album - einfach deswegen, weil es anders war, als alles, was ich jemals vorher aufgenommen hatte. Ich hatte hier wirklich etwas Neues entdeckt und ich wollte die neue Scheibe ganz in diesem Geiste machen. Es gibt hier somit auch nicht etwa ein neues 'Ocean View', sondern gleich 13 davon." Was war denn dieses Mal neu? "Nun, für mich war dieses Mal alles anders. Ich hatte neue Musiker - die Jungs von Hazy Malaze - eine neue Location (die Ostküste anstelle der Westküste) und einen brillanten neuen Produzenten, Michael Deming, der alles für mich änderte. Das erste, was ich ihm sagte, war, dass ich die Songs nicht um eine Akustik-Gitarre herum aufbauen wollte. Das veränderte eine Menge. Ich wollte viel Hall, Echo und einen psychedelischen Sound. Und ich wollte echte Streicher-Arrangements anstelle von Keyboard-Sounds. Ich wollte alles verändern und die Leute wirklich überraschen. Es sollte nicht schon wieder eine typische Songwriter-Scheibe werden." Was ist denn musikalisch gesehen der Hauptverdienst der neuen Scheibe? "Die größte Herausforderung ist natürlich immer, gute Songs zu schreiben - solche, die sich mit dem Rest meines Oeuvres messen können. In meinen Augen ist das herausragende Merkmal der neuen Scheibe, dass ich hier die beste, einheitlichste Gruppe von Songs versammelt habe, die ich je geschrieben habe."
Kommen wir mal zum Titel der Scheibe: Wenn das Gedächtnis - entwicklungsgeschichtlich - dazu dient, mit Anforderungen zurecht zu kommen, die in der Gegenwart oder der Zukunft liegen, dann heißt die Schlussfolgerung daraus, dass es ohne Gedächtnis - ergo ohne Vergangenheit - keine Zukunft geben kann. "Da stimme ich zu", meint Neal, "das ist der Grund, warum ich mir einen Titel aussuchte, der meinen Texten widerspricht. Es ist dieser Gegensatz, der diese Scheibe - und das Leben - interessant und geheimnisvoll macht. Mein Gedächtnis funktioniert für meinen Geschmack fast schon zu gut. Manchmal fühlt es sich an, als würden mich meine Erinnerungen übermannen." Neals Songs sind ein gutes Beispiel für vertonte "Slice Of Life"-Situationen. Ist es also nicht notwendig, einen Schlusspunkt, eine Auflösung zur Verfügung zu haben? "Ein Song muss gar nichts - außer mich emotional zu bewegen", überlegt Neal, "auch wenn ein Text nur zwei Zeilen hat: Wenn diese mich bewegen, dann ist das ein Song, der funktioniert." Wonach sucht denn der Songwriter Neal Casal heutzutage? "Emotional suche ich nach Tiefe, Poesie und Simplizität", verrät er, "musikalisch geht es nur um Melodien, Melodien, Melodien..." Neals neue Songs erscheinen komplexer als jene in der Vergangenheit. "Nicht nur die Songs - alles ist komplexer auf der neuen Scheibe", führt er aus, "und ich habe das absichtlich so angelegt - einfach weil ich nicht immer wieder dieselben Sachen machen will. Ich wollte mich selbst auf eine Ebene zwingen, die nicht sicher für mich war. Und zwar mit einem neuen Sound und neuen Strukturen." Neal sagte, dass die Scheibe das darstellen sollte, was in seinem Inneren vorginge. Da passiert dann scheinbar eine ganze Menge, oder? "Es würde zu weit gehen, wenn ich versuchte zu erklären, wie ich mich wirklich in meinem Inneren fühle", schränkt er ein, "es würde Stunden, Tage, ja Wochen dauern. Der Sinn dieser Scheibe liegt darin, dass du weißt, dass ich fühle und dich in den 51 Minuten, die die Scheibe dauert, als Hörer damit zu identifizieren. Am Ende wirst du hoffentlich eine leise Ahnung davon haben, wie ich mich fühle."
Neal Casal
Was ist für Neal das Zentrum der neuen Scheibe? "Das Zentrum sind die Songs. Es sind immer die Songs. Natürlich ist der Sound ziemlich verschieden. Und es gibt Millionen von Gitarren, Synthies, Cembalos usw. Aber der Kern sind stets die Songs. Ich könnte dir die Songs allesamt ohne Begleitung am Klavier vorspielen - und sie wären immer noch vollständig." Neals neue Stücke klingen immer noch ein wenig melancholisch - aber nicht depressiv. Wie hat er das erreicht? "Es war sehr, sehr schwer, diese Balance zu erreichen", gesteht er, "und das ist der Grund, warum es 13 Monate dauerte, diese Scheibe zu machen. Wir haben einen Monat an jedem Song gearbeitet." Neal sagt, er sehe die neuen Stücke als Gospels. Gibt es eine spirituelle Qualität in seinen Stücken, die sich nicht sofort erschließt? "Musikalisch sind es natürlich keine Gospel-Stücke", gibt Neal zu bedenken, "wenn ich meine ist, ist folgendes: Wenn du gute Gospel Musik hörst, hast du den Eindruck, dass die Sänger ihr ganzes Leben in den Song projizieren und dass es das der letzte Songs sein könnte, den sie in ihrem Leben singen. Das habe ich der Gospel Musik bei meinem Album entnommen. Es ging um die absolute Hingabe, als ich jeden einzelnen Song schrieb und produzierte." Interessant an der ganzen Geschichte ist der Umstand, dass die meisten Songwriter ja einen umgekehrten Weg wie Neal gehen und es eher darauf anlegen, immer einfacher zu werden. Wie fühlt es sich denn an, wenn man so richtig aufdrehen kann? "Es fühlt sich toll an", meint Neal begeistert, "ich glaube, ich habe meinen Weg gefunden. Ich will, dass meine nächste Scheibe noch sehr viel komplexer wird, als diese." Auf der anderen Seite sind Neals Texte ja nach wie vor ziemlich straight und simple. "Das war es ja, was ich wollte", meint Neal, "einfache Songs, eine komplexe Produktion. In so etwas waren die Beatles ja auch wahre Meister." Wie ist es Neal dann letztlich gelungen aus seinem Folkie-Modus auszubrechen? "Ich habe meine akustische Gitarre und eine Kiste mit all meinen Gram Parsons-Scheiben in der Mitte vom Highway 66 angezündet und einen Lastwagen drüberfahren lassen." Hat denn die neue CD als Therapie funktioniert? "Die Scheibe war meine Katharsis", bestätigt Neal, "und sie half mir durch die schwierigste Phase meines Lebens zu kommen. 2000 bis 2004 waren ziemlich schlimm für mich. Es gab eine Scheidung, Todesfälle, Drogen und andere schlimme Dinge. Diese Scheibe half mir, dieses Kapitel zu beenden und mich zurechtzurücken. Heutzutage fühle ich mich großartig und inspiriert und ich kann es nicht abwarten, eine neue Scheibe aufzunehmen. Diese werde ich wieder mit Michael Deming aufnehmen und das wird ein noch wilderer Ritt werden, als diese hier. Momentan denke ich, dass 'No Wish' die beste Scheibe ist, die ich je aufgenommen habe." Das mit der neuen eigenen Scheibe wird aber noch einen Moment dauern, denn momentan nimmt Neal zusammen mit Ryan Adams als Gitarrist der Cardinals eine CD mit Willie Nelson auf...
Weitere Infos:
www.nealcasal.com
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Neal Casal
Aktueller Tonträger:
No Wish To Reminisce
(Fargo/Rough Trade)
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