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KEREN ANN
 
Mathematische Nymphen
Keren Ann
Keren Ann Zeidel hat zweifelsohne die etwas andere Karriere gewählt: Sah es erst einmal so aus, als würde sich die "Frau ohne Muttersprache", wie sie sich selber bezeichnet, mit Frankreichs neuem Chanson-Gott Benjamin Biolay zu einer Art Neuauflage von Gainsbourg / Birkin zusammenschließen, so brachte ihr Umzug nach New York auch musikalisch eine Wendung mit sich. Sang sie zunächst ausschließlich auf Französisch (einmal abgesehen von dem auf Englisch eingespielten Album "Not Going Anywhere", das aber nur eine internationale Aufarbeitung des Biolay-Materials darstellte), so gab es auf "Nolita" bereits eine Mischung aus originären englisch- und französischsprachigen Songs. Auf dem neuen, selbst betitelten Album "Keren Ann" sind nun nur noch englischsprachige Songs zu finden. "Nun, ich lebe momentan hauptsächlich in New York und nur teilweise in Israel und Paris", erklärt dies Keren Ann, "ich will es nicht ausschließen, dass ich auch mal wieder französische Songs schreibe - aber erst wenn ich wieder mal längere Zeit in Frankreich lebe. Denn man schreibt immer in der Sprache, in der man gerade auch spricht. Dieses Album hat für mich daher ganz klar ein sehr spezifisches New York-Feeling." Damit ist aber nicht die Hektik des großen Apfels gemeint, sondern dessen Vielfältigkeit und dessen Weltoffenheit.
Aber auch musikalisch gibt es eine Weiterentwicklung. Waren Keren Anns Songs bislang eher jazzig und chansonartig angelegt, so gibt es dieses Mal eine dezente Hinwendung zum Rock zu entdecken. Wie wurde das neue Album konzeptionell angegangen? "Also ich wusste von Anfang an ganz genau, wie das Album klingen sollte", verrät Keren Ann, "was aber die Songs betrifft, so ist das ja so, dass man Songs über einen gewissen Zeitraum schreibt und diese sehr unterschiedlich werden. Auch wenn ich also eine klare Vorstellung davon hatte, wie alles klingen sollte, so wusste ich doch nicht, wie ich zu diesem Ziel gelangen sollte. Ich wusste also, welches Feeling die Scheibe haben sollte, aber nicht, wie ich dieses erreichen könnte. Also ließ ich mir Zeit. Ich arbeitete an meinen anderen Projekten weiter - z.B. Filmmusiken und Instrumentalmusik. Und immer dort, wo ich mich befand, nahm ich ein wenig auf. In Paris, in meinem Studio zu Hause in New York, bei einem Projekt in Island, in Los Angeles, wo ich an einer Dokumentation arbeitete und ein tolles Klavier vorfand - immer, wenn ein Studio mich inspirierte oder eine bestimmte Atmosphäre vorherrschte, von der ich mir vorstellte, dass sie hilfreich sein sollte, probierte ich etwas aus." Ist das Ganze dann so etwas wie ein musikalischer Reisebericht? "Das ist schwer zu sagen, denn es ist ja nicht so, dass ich einen ganzen Song in jedem Land aufnahm, sondern nur Teile davon. Dennoch hat jeder Song gewisse Elemente aus dem jeweiligen Land mitbekommen. Ich weiß also nicht, ob es ein Reisebericht ist. Aber musikalisch gesehen, ist es deutlich von New York geprägt. Es ist sehr eklektisch, es gibt Chöre, es gibt Rock - so wie New York eben ist. Du hast Punk auf der einen Seite und Rock und Philipp Glass auf der anderen Seite. Sagen wir also mal so: Es geht durchaus um Reisen auf der Scheibe - weil ich von Seeleuten, Trennungen, Rückkehr und der Reise zwischen zwei Orten erzähle. Es ist also schon ein Reise-Album."
Keren Ann
Und dieses sollte ein bestimmtes Sound-Design haben: "Ja, die Stimmen sollten in Räumen mit hohen Decken aufgenommen werden. Ich wollte viel Raumklang, natürliche Echos und Hall. Ich wollte die Räume einfangen, es sollte luftig sein und Raum zum Atmen geben. Ich wollte Zyklen innerhalb von Songs, wie z.B. bei 'Liberty'. Ich wollte aber auch viel Spannung - mit einem kleinen Walzer, wie bei 'Where No Endings End'. Auch sollte es ziemlich schnippig sein, wie bei 'It Ain't No Crime'. Alle diese verschiedenen Charakteristika wollte ich zusammen verbinden und ein einheitliches Bild erzeugen." Dafür muss man technisch aber schon sehr fit sein, oder? "Ich hoffe, dass ich das bin", zögert Keren Ann, "ich bin keine besonders gute Instrumentalistin und sehe mich nicht auf dem Level von Jazz-Musikern. Aber ich denke, dass ich doch ziemlich musikalisch bin. Ich spiele Gitarre so, wie ich es für meine Scheiben brauche, aber ich will nicht anderer Leute Musik aufführen. Das habe ich zwar getan - ich war eine Gitarristin in einer Rockband - und das hat auch Spaß gemacht, aber ich weiß nicht, wie weit ich damit gekommen wäre. Ich habe ein Gespür dafür, wie man für bestimmte Instrumente schreiben kann. Ich mag es, für Chöre und Streicher zu schreiben. Ich denke, dass ich auch z.B. für eine Klarinette schreiben könnte. Ich mag einfach Musik als Ganzes und der technische Aspekt gehört dazu. Das Song-Schreiben und das Spielen sind dabei irgendwie instinktiv, aber wie man technisch den Raum nutzt ist etwas anderes. Ich muss gleichzeitig Musikerin und Mathematikerin sein und diese Herausforderung mag ich." Aber nicht nur stilistisch, sondern auch innerhalb der einzelnen Stücke ist die neue Scheibe ziemlich eklektisch - und zwar in dem Sinne, dass die Stücke ungewöhnlich aufgebaut sind - mit langen Instrumentalpassagen oder wie aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, zum Beispiel. "Also das hängt von dem Song ab", erklärt Keren Ann, "die Produktion ist sehr komplex. Manchmal wollte ich einfach Instrumentalpassagen haben, weil der Song danach verlangte. Manche Songs verändern sich total im Studio. Manchmal bleiben Songs auch so, wie man sie sich vorgestellt hatte. Ich mag die Balance zwischen Physik und Emotion. Manche Songs sind einfach nicht fertig und verlangen nach mehr." Das führt manchmal auch dazu, dass sich Keren Anns Stücke wie gemalte Songs anhören. "Absolut, das sehe ich genau so", bestätigt sie, "wenn meine Songs Bilder wären, würde man sie impressionistisch nennen. Ich verwende alles, was ein wenig andere Töne oder Nuancen hat. Ich mag es, die Sound-Räume auszufüllen, so als malte man ein visuelles Bild. Sound ist ein wunderbares Werkzeug. Heutzutage gibt es so viele Möglichkeiten mit Sound zu arbeiten. Das mag ich. Ich schätze auch sehr die Zeit, die mit den Songs verbringe, während ich beobachte, in welche Richtung sie gehen. Das ist eine sehr wertvolle Zeit für mich. Manche Songs muss man auch liegen lassen. Sie rufen mich dann, wenn sie bereit sind."
Keren Ann
Keren Ann sagt ja von sich, dass sie - aufgrund ihrer Herkunft und ihres Lebensstils - keine richtige Muttersprache hat. Hat sie denn eine musikalische Muttersprache? "Vielleicht habe ich die", überlegt sie, "ich würde sie vielleicht über Sound und Emotion definieren. Aber ich wüsste nicht, wie ich dir diese erklären sollte - außer durch meine Songs." Das letzte Stück der Scheibe, "Caspia", ist ein Instrumental-Track, bei dem Stimmen als Instrumente eingesetzt werden. Was ist seine Funktion? "Es ist einfach ein 'Happy End' mit einer funky Note am Ende der Scheibe. Hier hört man noch einmal sehr schön meine 'Vokal-Nymphen', die man auf der ganzen Scheibe finden kann." Was sind denn bitte "Vokal-Nymphen"? "Also alle Stimmen, die du auf der Scheibe hörst sind so eingesungen worden", verrät Keren Ann, "die Parts sind so geschrieben und wir haben auch keine Sampler verwendet. Die Stimmen sollten jung und ätherisch klingen - wie Nymphen eben. Sie sollten natürlich klingen, weißt du, nach Wasser, Wind, Natur und so. Wenn man für die menschliche Stimme schreibt, dann schreibt man für ein menschliches Instrument. Und da gibt es unglaubliche Möglichkeiten. Man kann zum Beispiel das Instrument überhaupt erstmal erschaffen. Weil man nämlich Charakteristika und Tönungen bestimmen und durch das Kombinieren von verschiedenen Stimmen formen kann. Man erschafft also ein Instrument, das vorher noch nicht existierte. Das ist schon ganz erstaunlich und ähnelt ein wenig dem Schreiben für Streicher - außer, dass man zusätzlich noch Silben verwenden kann, was sehr interessant ist." Auf der letzten Scheibe, "Nolita", gab es einen erzählerischen, roten Faden. Gibt es diesen auf der neuen Scheibe wieder? "Dieses Mal gibt es keinen roten Faden. Es sind Songs über Freundschaft. Sie handeln nicht unbedingt von meinen Lieben, sondern von Leuten, die ich aus den Augen verloren habe, Leute, denen ich Postkarten schreibe. Meine Inspirationen kommen von meinen Reisen und meinem Leben - das ist immer so." Wonach hat Keren Ann, die Songwriterin denn dieses Mal gesucht? "Es war wie immer. Es gibt nur eine Art, auf die ein Song existieren kann - es gibt da keine zwei Möglichkeiten. Wenn man selber glücklich mit einem Song ist, dann muss man sich dafür entscheiden - auch wenn man zwei Wochen später vielleicht anders fühlen könnte. Aber so ist das bei der Arbeit an einem Album: Man muss sich entscheiden und es gibt nur eine Möglichkeit. Und man muss sich dabei auf sein Gefühl verlassen. Wenn du nicht zufrieden bist, dann veröffentliche eben nicht das Album!" "Keren Ann" - das Album - zeigt in diesem Sinne die vielen Seiten von Keren Ann - der Musikerin. Zwischen Musik, Mathematik, Emotionen, Technik und Inspirationen verquickt sich da alles zu einem einheitlichen, schlüssigen Ganzen. "Keren Ann" ist - zumindest auf diese Art - ein musikalisches Selbstportrait geworden.

Video "Lay Your Head Down"
EPK (französisch) mit Interviews und Live-Footage

Weitere Infos:
www.kerenann.com
de.wikipedia.org/wiki/Keren_Ann
en.wikipedia.org/wiki/Keren_Ann
www.capitolmusic.de/xml/1/3252123/index.html
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Jean-Baptiste Mondino-
Keren Ann
Aktueller Tonträger:
Keren Ann
(Capitol/EMI)
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