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WILD FLAG
 
Aus Liebe zur Musik
Wild Flag
Ohne ihre früheren Bands Sleater-Kinney, Helium und The Minders wäre die Geschichte des amerikanischen 90er-Jahre-Indierock ohne jeden Zweifel ganz anders verlaufen, eine Supergroup wollen Carrie Brownstein, Janet Weiss, Mary Timony und Rebecca Cole alias Wild Flag dennoch nicht sein. Das unterstreicht auch ihr großartiges selbstbetiteltes Debütalbum. Dem Quartett geht es ganz offensichtlich nicht um kommerziellen Erfolg, sondern einzig und allein um die Liebe zur Musik, um den Spaß am gemeinsamen Musikmachen. Große eigene Visionen rücken zugunsten von herrlich altmodischen Girl-Group-Harmonien, ungekünsteltem 60s-Rock mit willkommenem Garagen-Feeling, punkiger New-Wave-Energie und verschlungenen psychedelischen Anwandlungen in den Hintergrund.
Obwohl die Damen seit Jahren befreundet sind und bereits alle in diversen Konfigurationen in Bands zusammen gespielt hatten, führte ein Zufall, der zur Gründung von Wild Flag. Carrie war von der Filmemacherin Lynn Hershman-Leeson gebeten worden, für die Dokumentation "!Women Art Revolution" einige Instrumentaltracks beizutragen. Sie rekrutierte daheim in Portland, Oregon, Janet und Rebecca für die Aufnahmen, und als die Regisseurin plötzlich statt Instrumentalnummern Gesangsstücke haben wollte, schickten die drei Damen die Tracks an ihre alte Freundin Mary in Washington, DC. Obwohl die Aufnahmen entstanden, ohne dass die Musikerinnen je zusammen in einem Raum gewesen wären, waren alle vom Ergebnis so angetan, dass die Gründung einer richtigen Band - trotz der logistischen bzw. geografischen Herausforderung - der nächste logische Schritt war. Und eine richtige Band sollte es sein, denn einfach gemeinsam einen Schnellschuss aufzunehmen und dann wieder getrennte Wege zu gehen, kam für das Quartett nicht infrage. Außerdem wollten Wild Flag unbedingt einen guten, bedeutungsvollen Erstling abliefern. "Deshalb waren wir zunächst einmal lange auf Tournee und haben gelernt, was es bedeutet, zusammen in dieser Band zu sein", erklärt Carrie im Gaesteliste.de-Interview. "Es ging erst einmal darum herauszufinden, wo unsere jeweiligen Stärken liegen, was wir verwerten können und mit welcher Art von Dynamik wir spielen können. Als wir dann das Gefühl bekamen, dass wir wirklich etwas zu sagen haben, dass es beim gemeinsamen Schreiben und Spielen funktioniert, haben wir die Platte aufgenommen."

Dabei ist es überhaupt schon eine Überraschung, dass Carrie den Weg zurück zur Musik gefunden hat. Nach dem Ende von Sleater-Kinney hatte sie sich ganz zurückgezogen und am Musikgeschehen nur noch passiv als Journalistin teilgenommen. Doch durch die ständigen Diskussionen mit den Lesern ihres Blogs kam letztlich das Verlangen zurück, wieder selbst Musik zu machen. Also packte sie, die als einzige Frau in der Rolling Stone-Liste der "25 most underrated guitarists" auftaucht, 2009 ihre Gibson SG wieder aus. Auch Mary war zu diesem Zeitpunkt auf der Suche. Rund zehn Jahre nach dem Ende ihrer Band Helium war sie es leid, als Solokünstlerin auf sich allein gestellt zu sein. Die Herausforderung, nicht nur eine neue Band, sondern eine Band mit solch starken Mitstreiterinnen zu gründen, kam da gerade recht.

Für Carrie dagegen stellte nicht zuletzt auch die Quartett-Besetzung von Wild Flag eine Herausforderung dar. Ihre ersten Bands, Excuse 17 und Sleater-Kinney, waren Trios ohne Bassistin, The Spells, ihre kurzlebige Band gemeinsam mit Mary, gar nur ein Duo. "Natürlich war das auch Teil des Lernprozesses", bestätigt sie. "Ich hatte ja zuvor noch nie in einer Band gespielt, in der ein Tasteninstrument zum Einsatz kam, und Rebecca spielt ja nicht nur Keyboard, sondern mit der linken Hand auch Key-Bass. Ich empfand es als sehr befreiend, dass auf einmal die unteren Frequenzen von jemand anders abgedeckt wurden und so zudem der Band ein weiteres melodisches Element hinzugefügt wurde. Allerdings hat es eine Zeit gedauert, bis ich mich darauf eingestellt hatte. Mir wurde zum Beispiel bewusst, dass ich bisweilen auch Mary das Gitarrespielen überlassen kann. Sie ist eine tolle Gitarristin mit einem ausgezeichneten Gefühl für Melodie, und das hat mir die Chance eröffnet, mich mehr auf die Riffs zu stürzen und mehr Rhythmus- und weniger Leadgitarre zu spielen." Oder die Gitarre gleich ganz in die Ecke zu stellen und bei einigen Songs nur zu singen! "Es hat mich wirklich überrascht, wie sehr ich es genossen habe, nur zu singen und nicht Gitarre zu spielen", gesteht sie. "Außerdem fällt es mir leichter, kompliziertere Gesangslinien in die Songs einzubauen, wenn ich weiß, dass ich nicht gleichzeitig singen und Gitarre spielen muss. Bei Sleater-Kinney war ich ja vor allem Gitarristin, und auch wenn ich einige Songs gesungen habe, waren es doch nicht annähernd so viele wie jetzt."

Obwohl die vier Damen schon in vielen Bands gespielt haben, stellt Wild Flag in vielerlei Hinsicht Neuland für sie dar. Das macht sich auch in den Texten bemerkbar. Anders als bei Sleater-Kinney fehlt eine adressierte Botschaft dieses Mal. Eher setzen sich die Damen semi-autobiografisch mit ihren eigenen Lebensumständen auseinander, thematisieren ihr Verhältnis zur Musik im Speziellen und zur Kunst im Allgemeinen, das Problem, sich trotz zunehmenden Alters einen jugendlichen Geist zu bewahren, und suchen nach Rechtfertigungen dafür, auch mit Ende 30 noch mit einer Band um die Häuser zu ziehen, während alle gleichaltrigen Freunde feste Jobs, Beziehungen und Kinder haben. Wie die vier im bürgerlichen Leben aussehen (könnten), kann man übrigens im Videoclip zu "Romance" sehen. Mary spielt eine Sekretärin, Rebecca eine Frau vom Wachdienst, Janet arbeitet bei der Putzkolonne und Carrie mimt am Konferenztisch den fiesen Boss, bis es endlich 13.00 Uhr ist und sie gemeinsam durch die Stadt ziehen können, um jede Menge Unfug anzustellen. Obwohl der Clip wirklich in jeder erdenklichen Hinsicht ausgezeichnet zu Wild Flag passt, sieht Carrie Videos nicht wirklich als Teil des kreativen Outputs ihrer Band: "Nein, ich sehe sie als etwas Separates. Ich mag es, wenn Songs auf visuelle Art und Weise interpretiert werden, und ich liebe es, mir Videos von Bands aus den 60ern und 70ern anzuschauen, weil sie interessante visuelle Zeitdokumente darstellen, aber als Notwendigkeit betrachte ich sie nicht. Für mich sind sie einfach ein netter und interessanter Weg, einen Song wahrzunehmen." Ein weiterer Clip, zu "Electric Band", ist allerdings bereits im Kasten, und Carrie könnte sich sogar vorstellen, zu jedem Song des Albums einen begleitenden Film zu drehen, allein die Zeit dafür hat sie nicht. Ironischerweise genau deshalb nicht, weil sie für ihr zweites Erfolgsprojekt vor der Kamera steht.

Wild Flag
Fast zeitgleich mit Wild Flag startete nämlich auch ihre brillante Sketch-Comedy-Show "Portlandia" auf dem US-Kabelkanal IFC, in der sie gemeinsam mit "Saturday Night Live"-Dauerbrenner Fred Armisen das (Künstler-)Leben in ihrer Heimatstadt Portland aufs Korn nimmt, nachdem die beiden bereits seit einigen Jahren als "Thunderant" das Internet unsicher gemacht hatten. Dabei scheint eine oft brüllend komische Comedy-Show so gar nicht zu der Carrie zu passen, die in Interviews gerne ruhig und sachlich von ihrer innigen Beziehung zur Musik spricht. "Ich denke, es geht in erster Linie um die Intention", sagt sie. "Die Musik ist mir sehr ernst und sie ist sehr direkt und eindringlich. Bei 'Portlandia' geht es darum, launig und absurd zu sein. Beides hat aber die gleichen Wurzeln, beides entstammt meiner Liebe für das Performen, für die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Ich sehe sie deshalb nicht als zwei verschiedene Dinge, lediglich das Ergebnis ist anders. Ich schätze mich einfach glücklich, dass ich zwei Projekte habe, denen die Menschen Aufmerksamkeit schenken. Ich liebe die Arbeit mit Fred Armisen bei 'Portlandia' und wir haben gerade die zweite Staffel abgedreht. Dass beide zeitlich parallel laufen, ist nur ein Zufall. Es stimmt schon, ich bin sehr beschäftigt, aber ich mag es, beschäftigt zu sein." Zeit für Misserfolge bleibt da eigentlich nicht, oder? "Misserfolge eröffnen dir immer die Möglichkeit, neue Wege zu finden, etwas zu tun", gibt sie sich philosophisch. "Bei der Musik ist es mir nie um Perfektion gegangen. Es ging immer um Chaos, Fehler und Unordnung. Ein paar Bruchlandungen entlang des Weges machen mir deshalb nichts aus." Sie hält kurz inne und fügt dann noch lachend hinzu: "Das heißt allerdings nicht, dass nicht auch ich Erfolg als befriedigender empfinde!"
Weitere Infos:
www.myspace.com/wildflag
www.wichita-recordings.com/artists/wild-flag-2
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Pressefreigabe-
Wild Flag
Aktueller Tonträger:
Wild Flag
(Wichita Recordings/Pias/Rough Trade)
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