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SPEARHEAD
 
Michael Franti Superstar!
Spearhead
Noch vor zehn Jahren konnte man allein damit eine Menge Eindruck schinden, dass man sich als Soul-, R&B- oder HipHop-Fan geoutet hat, denn die Styles sprachen bereits für einen guten Geschmack. Marvin Gaye, Curtis Mayfield, Sly Stone, KRS-One und Boogie Down Productions oder Public Enemy - alles gut klingende Namen, die für Qualität, Gefühl und Inhalt stehen, und das färbte natürlich auch auf ihr Publikum ab. Denkt man heute an den typischen R&B- und HipHop-Fan, fallen den meisten wohl irgendwelche Typen mit schlechten Frisuren ein, die in Streetwear für 1.000 Mark mit ihren getuneten Golf GTIs ihre nicht weniger getuneten Mädels durch die Gegend fahren und dabei die gesamte Nachbarschaft mit lästigen Beats, Pseudo-Feelings und jeder Menge Fake-Ghetto-Attitüde beschallen. Denn heute geht es im R&B und HipHop bekanntlich vor allem um Geld, Sex und schnelle Autos.
Auf den ersten Blick fallen vielleicht auch Spearhead und ihr Mastermind Michael Franti in diese Kategorie, doch der hünenhafte Amerikaner will und kann sich wohltuend von den gerade erwähnten Klischees absetzen. Seit inzwischen fast 15 Jahren war er oft mehr Aktivist als Musiker, trotzdem waren es immer wieder vor allem seine Platten, die für Aufsehen gesorgt haben. Ende der 80er zum Beispiel, als er mit den Beatnigs und "Television (The Drug Of The Nation)" zusammen mit Bands wie Living Colour oder Arrested Development die Speerspitze (der spätere Bandname kommt nicht von ungefähr) der afro-amerikanischen Bewegung bildete, die sozial inspirierte Texte in progressive Sounds mit Wurzeln in Classic Soul, Funk oder R&B verpackte. Mit den Disposable Heroes Of Hiphoprisy führte Franti dies dann Anfang der 90er auf leider nur einem (legendären) Album - "Hypocrisy Is The Greatest Luxury" - weiter, coverte sogar "California Über Alles" von den Sex Pistols und landete so im Vorprogramm von Bands wie U2 oder sogar Bob Moulds Sugar, spielte damals wie heute mit echter Liveband und wurde alleine deswegen zu einer Ausnahmeerscheinung: Ein HipHop-Act, der nicht nur ohne DATs und sonstige Tricks auskommt, sondern sogar noch jeden Abend ein andere Set spielt.

Dass Franti auch gerade im Lager der klassischen Gitarrenmusikfraktion viele Fans hat, freut ihn, ohne ihn zu überraschen, wie er der Gästeliste beim Interview im Kölner Hotel Hopper erklärte: "Einige Leute kommen beim R&B einfach mit dem Beat nicht zurecht, noch viele andere mögen die Beats, kommen aber überhaupt nicht mit den Inhalten klar. Also wenden sie sich komplett von dieser Musik ab und suchen erst gar nicht nach wirklich gutem HipHop, nach Lauryn Hill oder den Fugees zum Beispiel. Allerdings muss ich gestehen, dass es mir oft genauso geht. Ich schaue wehmütig auf die Zeit zurück, in der die Menschen gesagt haben: 'Okay, das System ist scheiße, aber die Menschen müssen einfach nett zueinander sein'. Anstand zu besitzen ist eine sehr wichtige Grundlage. Das kommt bei Soul-Artists wie Marvin Gaye, Sly Stone, Stevie Wonder oder sogar Bob Marley oder Gil Scott Heron durch. Man kann sogar Jimi Hendrix oder Santana noch dazuzählen. Oder die Beatles. Deren Musik war zwar nicht politisch im eigentlichen Sinne, aber auch sie hatten immer die unterschwellige Botschaft: Seid nett zueinander. Es muss nicht unbedingt superpolitisch sein, aber zumindest sollten die Texte nicht nur von deinem eigenen Ego handeln. Heute sind wir so weit, dass die Leute noch nicht einmal mehr davon reden, dass das System am Ende ist, es heißt nur: Wie bekomme ich so schnell und so einfach wie möglich ein großes Stück vom Kuchen? Die Haltung schreckt eine Menge Leute ab und sie wollen nichts mit HipHop zu tun haben, und dazu zähle ich mich eben auch selbst."

Nach der Auflösung der streckenweise recht experimentellen Disposable Heroes gründete Franti Spearhead als mehr oder weniger loses Kollektiv von Musikern, die seine Visionen mittragen würden. Musikalisch widmete er sich dabei verstärkt seinen - bereits erwähnten - musikalischen Roots und stellte die Soulkomponente immer mehr in den Vordergrund. Auf dem neuen, dritten Spearhead-Album "Stay Human" ist dies offensichtlicher als je zuvor. Einer der Gründe dafür ist, dass Franti am liebsten mit einer Liveband spielt, ein anderer, dass er mit der neuen Platte ungeahnte Freiheiten genoss, denn es ist die erste, die in den Staaten auf seinem eigenen Label Boo Boo Wax erscheint (in Europa bei Labels). Neun Monate hat er damit zugebracht, aus seinem eigentlich noch laufenden Vertrag mit EMI Capitol herauszukommen. Dass er bei der Riesenfirma völlig missverstanden wurde und deshalb keine Zukunft mehr hatte, wurde Franti in dem Moment klar, in dem der Capitol-Boss mit einem "verheißungsvollen" Vorschlag an Spearhead herantrat. "Er kam zu mir und sagte: 'Also, ihr solltet wirklich einen Song mit Will Smith aufnehmen, dann würden wir bestimmt auch Millionen von Platten von euch verkaufen'." Franti konnte über so viel Unverständnis nur den Kopf schütteln und alles versuchen, den Vertrag aufzulösen.

Was das Spearhead-Mastermind dabei heute am meisten vermisst, ist die Suche nach der musikalischen Wahrheit. "Heute gibt es einfach keine zeitgenössischen Künstler, die als Singer/Songwriter einfach den Gefühlen in ihrem Herzen freien Lauf lassen, Leute wie Neil Young oder Bob Marley. Heute geht es nur noch darum, neue Beats zu finden, und die Produzenten sind die eigentlichen Künstler. Sie machen den Sound und suchen sich dann irgendein Gesicht, mit dem sie's verkaufen können. Das ist ökonomische Kunst, das hat nichts mehr mit Spirit zu tun. Die Leute gehen heute an die Sache wie an eine Wissenschaft, nicht wie an Kunst heran. Es geht nicht mehr darum, Gefühle und Verletzlichkeit zu kreieren. Und wenn sie doch deine verletzliche Seite finden, heißt es gleich im nächsten Schritt: 'Und hier ist das verdammte T-Shirt, hier kommt der Film dazu!'"

Nach der Loslösung von der Majorindustrie stellte sich Franti eine hypothetische Frage: Wenn ich nur eine einzige Platte in meinem Leben machen könnte, wie würde sie klingen, was würde sie aussagen? Die Antwort: So wie "Stay Human". "Die Platte greift auf alle musikalischen Styles zurück, die ich mag: Soul, Funk, Jazz, HipHop, Latin Music, Reggae. Textlich geht es um Themen, die mir immer schon wichtig waren: Die Todesstrafe, Marihuana als Heilmittel, Piratensender und die Medien als Ganzes. Die Message, die sich dabei herauskristallisierte, war schlicht und ergreifend: Stay human! Versuch dein Bestes in einer Welt, in der geschäftliche Interessen mehr zählen als die Menschen selbst."

Vier Jahre hat uns Franti auf das neue Album warten lassen, aber selbstredend war er nicht untätig in der Zwischenzeit. Egal ob beim WTO-Protest in Seattle, als Gegenredner bei Parteitagen der Republikaner und Demokraten letzten Sommer, als Verfechter eines neuen Gefängnissystems in den Staaten oder als Gastredner in Schulen - Franti war überall in vorderster Front dabei, hat dabei, wie er selbst sagt, eine Menge Elend gesehen und die nun auf der neuen Platte verarbeitet. Dabei hat Franti auch festgestellt, dass die Proteste immer dann am ehesten Erfolg haben, wenn es um das politische Klima nicht zum Besten bestellt ist. Mit anderen Worte: Unter Hardliner Bush ist es einfach als noch unter Strahlemann Clinton.

Franti: "Es ist einfacher, weil du schneller auf Menschen triffst, die bereit sind zuzuhören. Gerade jetzt, wo ich weltweit auf Tour bin, stelle ich fest, dass die Leute sich [seit der Wahl von Bush] wieder viel mehr für Amerika interessieren als in den vorangegangenen zwei Jahren. Es gibt dieses Sprichwort, wenn Amerika niest, bekommt der Rest der Welt Schnupfen. Aber wenn wir jemanden wie Bush wählen, kann das bedeuten, dass der Rest der Welt Krebs kriegt."

Das einzig Positive daran ist, dass in solchen Zeiten gerade junge Leute motivierter zu sein scheinen, etwas gegen diesen Zustand zu tun, und Musik, da ist sich Franti sicher, kann ein wichtiger Auslöser sein. "In den 70ern haben zum Beispiel viele vom Frieden geredet, aber wenn dich auf der Straße ein paar Hippies mit dem Peace-Zeichen begrüßt haben, woher hatten sie das denn wenn nicht von fuckin' George Harrison? In den 90ern ist es dann darum gegangen, Verständnis für die AIDS-Krise aufzubringen, und Musik hat dabei gerade für junge Leute eine wichtige Rolle gespielt, einfach weil das Problem thematisiert wurde. Jetzt ist das Thema der Hang zur Globalisierung oder die Todesstrafe in meinem Land."

Im Booklet des neuen Albums finden sich so zum Beispiel Zitate von mit Franti befreundeten Künstlern und Berühmtheiten, die auf ihre Weise die Ablehnung der Todesstrafe zum Ausdruck bringen. "Es gibt zu viele Leute, die gar nicht darüber nachdenken und einfach gute Miene zum bösen Spiel machen. Letztendlich geht es ja um die Frage: Ist es in Ordnung zu töten und unter welchen Umständen? Dürfen wir Bomben über Irak abwerfen? Wenn nicht - verdienen dann die Piloten die Todesstrafe? Die Fragestellung ist zeitlos, und es ist wichtig, dass sie neu diskutiert wird."

Obwohl das neue Album sehr politisch ist - nicht zuletzt, weil die Songs von einem fiktiven (!) Radiointerview unterbrochen werden, in der das Schicksal der Politaktivistin Sister Fatima geschildert wird, die für einen Mord hingerichtet wird, den sie nicht begangen hat - muss ein Thema nicht unbedingt Zündstoff beinhalten, um für Franti interessant zu sein. Vor allem ist Balance ist ihm wichtig. So sind auf der neuen Platte mehr als je zuvor die Refrains der Songs kurz, prägnant und wie zum Mitsingen geschaffen. Die Strophen dagegen sind um so textlastiger und haben unendlich viele Worte. Alles Absicht, wie Franti bestätigt. Mit dem Refrain fängt er das Publikum also sozusagen ein, um ihm dann in den Strophen seine Message näher zu bringen.

Irgendwelchen Inhalten verschließen würde er sich nie: "Zum Beispiel kann man nicht sagen, dass es nicht schon genug Liebeslieder gäbe, aber solange man immer wieder neue Wege findet, Liebe auszudrücken, kann man auch darüber schreiben." Dann überlegt er kurz und fügt abschließend lachend an: "Es gibt aber einen Song namens 'Everybody Loves You When You're Bi' auf dem Living-Color-Album 'Stain'. Da dachte ich wirklich, dieser Song hätte nicht unbedingt geschrieben werden müssen, hahaha!"
Weitere Infos:
www.spearheadvibrations.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Wonder Knack-
Spearhead
Aktueller Tonträger:
Stay Human
(Labels/Virgin/Virgin)

 
 

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