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MADRUGADA
 
Schmutzige Wurzeln
Madrugada
"Grit" heißt das neue Album der Norweger Madrugada. Grit heißt übersetzt a) grober Sand, Kies; b) Mut, Entschlossenheit, Mumm; c) Haferschrot, Grütze und c) knirschen, mahlen. Aber: Kommt man bei einer norwegischen Band, deren Namen aus dem spanischen kommt und sich übersetzen lässt mit "die Stunde vor dem Sonnenaufgang", mit bloßen Übersetzungen weiter? Wahrscheinlich nicht. Aber "gritty" nennt der Amerikaner u.a. auch schmutzig-rotzige Rockmusik. Und diese findet man in der Tat auf dem dritten Werk der Nordlichter. Im Gegensatz zu den eher elegischen Vorgängern, "Industrial Silence" und "The Nightly Disesase" haben die Jungs sogar noch mal einen guten Zacken zugelegt - sowohl was Lautstärke, wie auch Tempo und Stil betrifft.
Robert Buras, der Gitarrist und die treibende musikalische Kraft hinter dem Trio mit Drummer (dazu später mehr) erklärt den Titel der neuen Scheibe so: "Grit hat viele Bedeutungen. Wenn du dir die Texte anhörst, wird es bestimmt offensichtlich werden. Es hat sicherlich damit zu tun, dass die Musik auf dem neuen Album schmutziger und rauher ist, als auf den anderen beiden Alben. Es geht auch um das Leben, das wir führen und um die Beziehungen, die dadurch zerbrochen sind. Das neue Cover wird das auch verdeutlichen - es wird farbiger sein, als die anderen beiden aber auch ein bisschen schmutzig. Der Titel kommt eigentlich aber von diesem Henry Miller Roman. Da geht es darum, dass die Hafenarbeiter, wenn sie abends nach Hause kommen, den Schmutz nicht von ihren Händen bekommen können. Er hat sich so festgesetzt, dass man ihn nicht einmal abwaschen kann, wenn sie sterben. Das ist so ein bisschen eine Metapher für uns als Rockband." In dem Sinne wohl, dass man die Musik im Blut hat und sich nicht wieder los wird. Eine weitere literarische Metapher findet sich in dem Song "Billy Pilgrim" auf dem neuen Album. Ist das der "Billy Pilgrim" aus dem Kurt Vonnegut Roman "Slaughterhouse 5"? "Ich denke schon", sagt Robert, "da musst du Sivert [Høyem - den charismatischen, glatzköpfigen Sänger] fragen." Was aber nicht geht, da die Plattenfirma andere Pläne mit Sivert hat. Übrigens: Wer an dieser Stelle etwa eine Lese-Liste von Robert Burås erwartet hätte, muss enttäuscht werden. Robert kann sich nicht mal an den Titel des besagten Henry Miller Romans ("Black Spring") erinnern. "Ich bin kein großer Leser", gibt Robert zu, "dafür bin ich zu unruhig". Aber dennoch zurück zu den literarischen Anspielungen: "So wie ich Sivert kenne, geht es in dem Song eher um ihn selbst - bzw. darum, wie unsere Arbeit sich auf andere auswirkt. Das Stück ist aus der Sicht seiner Freundin geschrieben und 'Billy Pilgrim' ist in dem Song ein pseudonym für Sivert - der Rock'n'Roller auf der Tour. Sivert's Texte hatten bisher immer so etwas 'Vorwegnehmendes'. Sie handelten immer von Dingen, die erst noch passieren würden. Auf der neuen Scheibe schreibt er mehr über eigene Erfahrungen, Dinge die auch passiert sind - Realität. Es geht um Beziehungen und die Schwierigkeiten damit, darum, sich Normen anzupassen. Nimm zum Beispiel den Opener: 'Bloodshot - Adult Commitment' das ist ein Thema, mit dem sich jeder irgendwann einmal beschäftigen muss: Erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, damit kann sich jeder identifizieren." Das passt offensichtlich zum neuen Selbstverständnis der Band, die somit nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich selbstbewusster auftritt. Wie hat sich dieses neue Selbstverständnis denn entwickelt? Madrugada hätten schließlich auch bequem auf dem einmal beschrittenen Weg - mit Songs zwischen den "norwegischen Oasis" (so Sivert bei einem Live-Konzert) und "Nick Cave Düsternis" (alle anderen) - weiter machen können? Woher kam der Drang, plötzlich wie die Stooges zu besten Zeiten vom Zaun zu brechen? "Das hängt mit meinen Wurzeln als Gitarrist zusammen", erklärt Robert, "als ich 12 Jahre alt war, hörte ich den ersten Rock-Song, den mir ein Freund zusteckte, der ein großer Rock-Fan war. Davon hatte ich nicht allzuviele, als ich ein Kind war. Er machte mir ein Tape und der erste Track darauf war 'Rock'n'Roll' von Led Zeppelin. Dieser Song - zusammen mit 'Never Mind The Bollocks' von den Sex Pistols ist der Grund, warum ich begann, Gitarre zu spielen. Jedes Mal, wenn ich ihn höre - wie z.B. gestern in Hamburg in dieser Bar, werde ich dessen gewahr und es läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. Wir wollten nun eine Scheibe in diesem Geiste machen. Diese stimmungsvollen Mid-Tempo Sachen haben wir ja nun eine ganze Zeit lang gemacht - eigentlich seit wir angefangen haben, Scheiben aufzunehmen. Ich habe ja immer schon gedrängelt und wollte etwas zulegen. Aber bis jetzt war die Band noch nicht bereit für diesen Schritt. Wir hatten natürlich viele Ideen gesammelt - so um die 50 würde ich sagen. Nicht ganze Songs, aber Riffs und so. Damit haben wir eine Zeitlang geprobt, und dann schälte sich langsam etwas heraus. Als wir dann in Berlin ins Studio gingen, habe ich Frode (Jacobsen) unseren Bassisten gefragt, der die Scheibe mit Head (PJ Harvey) zusammen produzierte: 'Frode, was denkst du? Sollen wir es jetzt wagen?' und er meinte 'Ja, lass uns eine schnelle, laute Scheibe machen - so Rock'n'Roll wie möglich'. Es ist aber keine Punk Scheibe geworden - nun ja, ein bisschen schon - auch wegen der Dub-Reggae Einflüsse wie auf 'Get Back in Line' - was ja ein Clash-Ding ist. Es ist einfach ein gute Rock-Scheibe geworden, die man gut live spielen kann - und das kann ich kaum abwarten. Wir haben auch einen neuen Drummer und somit einen neuen Groove."

Auch das ein Effekt des Dauer-Stresses auf Tour: Jon Lauvland Pettersen verließ die Band im Streit. "Wir hatten uns auseinandergelebt. Wir gingen uns auf die Nerven, wir entwickelten uns nicht weiter - es war die Hölle. Am Ende der Tour sagte Jon, dass er gehen wolle und das war gut so - denn es musste etwas passieren. Wir haben fast sechs Monate nicht mehr miteinander gesprochen. Als ich dann schließlich wieder mit ihm gesprochen habe, sagte er mir, dass er ein neues Projekt angefangen habe und in den Norden gezogen habe. Ich denke, es war für alle das Beste."

Es ist ja auch immer ein gewisses Wagnis, wenn man sich als Band soundmäßig vom gewohnten Terrain weg bewegt. Ist es für eine norwegische Band weniger wichtig, auf ihr Image zu achten, als für eine englische oder amerikanische Band? "Nun ja, englische Bands haben ja diese Angst davor, uncool wirken zu können. Sie müssen ja stets die Vorgeschichte mit diesen großartigen britischen Bands im Hinterkopf haben. In den letzten Jahren scheint es aber gar nicht so viele interessante oder großartige Bands aus England zu geben - sicher, da gibt es Primal Scream, die großartig sind und dich wegblasen - aber das ist ja keine neue Band. Wenn es heut neue Rock-Bands gibt, dann sind die doch ein bisschen uptight, was den Sound betrifft und was man machen kann und darf - und dann klingt es retro. In Norwegen haben wir sicherlich mehr Freiheiten diesbezüglich. Wir wollen einfach nur gute Musik machen. Und wenn das bedeutet, dass wir eben einen Punk Song oder eine Ballade oder einen Reggae machen wollen, dann ist das für uns natürlich. Wie für die alten großartigen englischen Bands auch. 'London Calling' hatte ja z.B. alles, was eine Scheibe haben muss. Und auch Led Zeppelin hatten alles mögliche auf ihren Scheiben. Und sogar die Stones haben - neben dem Blues - immer verschiedene Stile verarbeitet. Und ja: Wir als norwegische Band können tun und lassen, was wir wollen - auch, weil wir uns nicht an großen Vorbildern aus dem eigenen Land orientieren müssen. A-ha waren sicher eine tolle Pop-Band - aber wir sind da ja doch sehr verschieden. Das ist übrigens eine sehr interessante Frage..." Aus Norwegen kommen momentan ja alle möglichen - sehr verschiedenen - Acts: Midnight Choir, Big Bang, Maria Solheim, Kings Of Convenience, Røyksopp, Ai Phoenix, St. Thomas - um nur einige zu nennen. Woher kommt denn dieser plötzliche Überschwang? "Ha, unser Selbstbewusstsein ist wohl gewachsen", meint Robert hierzu, "die Leute machen einfach ihr Ding und wissen, was sie wollen. Da gibt's z.B. einen neuen Act - Cato Salsa Experience - die musst du dir mal anhören. Das ist eine absolut ungewöhnliche Band - da wird noch was Großes draus werden." Dennoch: Madrugada machen ja nun mal Rock-Musik. Wenn man heutzutage eine Rock-Band gründet, dann muss man ja gewahr sein, dass mit der Gitarre alles, was man machen kann, auch bereits schon gemacht worden ist. Wie findet man denn heutzutage seine eigene Stimme? "Also das hat eine lange Zeit gedauert", gibt Robert zu, "bevor ich anfing, Gitarre zu spielen, habe ich alles mögliche ausprobiert - vom Fußball spielen, bis hin zum Kornett. Als ich dann meinen ersten Blues-Riff lernte, wurde ich richtig besessen davon. Ich probte jeden Tag mindestens fünf bis sechs Stunden. Dann durchlief ich alle möglichen Stile. Ich habe z.B. Neil Young nicht entdeckt, bis ich 17 war. Und das hat mir viele Türen geöffnet. Was bleibt, ist die Art, wie ich die Saiten bearbeite. Ich bin kein sehr technischer Spieler, aber ich hab eine bestimmte Energie die Saiten anzureißen. Verzweifelte Energie will ich es mal nennen. Jedes Mal wenn ich eine Saite anreiße, muss es klingen, als sei es das letze Mal, dass ich das tue. Ich habe zudem eine spezielle Gitarre, die ich verwende - ein 66 Fender Jazzmaster. Du musst dein Instrument finden, zu dem du dann eine fast persönliche Beziehung entwickelst. Und dann kommen natürlich Jahre und Jahre des Spielens hinzu. So findest du dann deinen eigenen Stil."

Hier kommt dann noch mal das Drummer-Problem zum Tragen: "Ich weiß, dass viele Musiker das Instrument, das sie spielen, eigentlich gar nicht spielen wollen. Ich kenne viele Drummer, die eigentlich gar nicht Drums spielen wollen. Du musst aber dein Instrument lieben - das ist das Geheimnis."

Das Leben als Rockstar birgt indes auch gewisse Gefahren - zumindest auf der persönlichen Ebene. "Ja, besonders, wenn du in einer Beziehung bist", stimmt Robert zu, "es ist nicht immer ganz einfach. Du bist in deiner eigenen Welt als Musiker. Und wenn du da raus kommst, bist du total ausgelaugt. Ich möchte dann manchmal einfach nur in den Park gehen und mich hinlegen und die Kopfhörer aufsetzen. Und wieder in der Musik verschwinden. Da ist ja auch jede menge Eskapismus in der Musik. Und das ist ein weiterer Grund, warum ich begonnen habe, Gitarre zu spielen. Es ist eine Möglichkeit der Realität zu entrinnen."

Madrugada
Wie wird es denn jetzt stilistisch weiter gehen? Denn mit diesem Album sind Madrugada musikalisch ja im Prinzip einen Schritt zurückgegangen (die Jungs fingen mit Stones- und Stooges-Covern an)? Neue Möglichkeiten deuten sich in Stücken wie "Try, Try, Try" an, einer treibenden Rocknummer mit einer Frauenstimme und der Möglichkeit für mehr... man vermeint z.B. Bläser zu hören. "Wirklich?" fragt Robert, "das ist witzig, weil das Stück ursprünglich Bläser haben sollte. Es hat dann aber alles so wunderbar gepasst: Tracy Maine kommt aus Chicago, lebt aber in Norwegen. Sie hat diese kraftvolle, wunderbare Stimme. Dann hat dieses Stück diese unbändige Energie und dieses Motown Feeling. Aber das mit den Bläsern werden wir bestimmt demnächst machen. Wir werden eine ganze Menge verschiedener Sachen machen. Jedes Mal, wenn wir ein Album aufnehmen, werden wir die Sachen auseinandernehmen und versuchen, eine bestimmte Stimmung einzufangen. Das, was wir jetzt tun, liebe ich wirklich. Wie gesagt: Das ist die Musik, mit der ich begann. Aber wir sind drei sehr kreative Köpfe (und ein Drummer). Wir haben jetzt eine Position erreicht, wo wir die Möglichkeit haben, eine wirklich große Rock'n'Roll-Band werden zu können. Das ist jetzt ein neuer Start für uns und von hier aus können alles erreichen. Es wird sehr spannend zu sehen, wohin uns das führen wird."
Weitere Infos:
www.madrugada.net
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Jasper James-
Madrugada
Aktueller Tonträger:
Grit
(Virgin)

 
 

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