23.06.2017 http://www.gaesteliste.de/zehnpluszehn/show.html?_nr=258 |
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10+10 |
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ALGIERS |
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"Nein, ganz und gar nicht!", sagt Algiers-Bassist Ryan Mahan bestimmt, wenn man ihn fragt, ob seiner Band das derzeitig weltweit herrschende politische Klima in die Karten spielt. "Nimm nur mal Donald Trump. Was er derzeit macht, ist so absurd, so abstoßend, dass eine wohlüberlegte Kritik seines Tuns auf intellektuellem Level sehr schwierig ist. Das Ganze hat sich inzwischen zu solch einem Schauspiel, solch einem Spektakel entwickelt, dass einem oft die richtigen Worte fehlen, um seine Sicht der Dinge angemessen zu artikulieren."
Trotzdem ist "The Underside Of Power", die nun erscheinende zweite Algiers-LP, ein wütendes, kämpferisches Album zwischen Post-Punk, Industrial, Blues und Soul, das an anderer Stelle bereits treffend als „Neo-Gospel für schwarze Seelen“ beschrieben worden ist. Aufgenommen mit Adrian Utley von Portishead auf dem Produzentenstuhl, der auch gleich noch seine Sammlung analoger Synthesizer zur Verfügung stellte, klingt das umwerfende neue Werk des ursprünglich aus Atlanta, Georgia, stammenden Quartetts spürbar elektronischer als das ausgezeichnete Debütalbum aus dem Jahre 2015. Die Dringlichkeit aber, die man bei den Amerikanern praktisch in jedem Ton, in jedem Wort spürt, ist geblieben. Egal ob düster klingende Synthies, treibende Electro-Beats oder verzerrte Gitarren - der Druck, den Sänger und Multiinstrumentalist Franklin James Fisher, Gitarrist Lee Tesche, Bassist Ryan Mahan und Neu-Schlagzeuger Matt Tong (ja, der von Bloc Party) entwickeln, ist ebenso beeindruckend wie befreiend. Auch Algiers geht es um Widerstand, anders als viele ach so politisch motivierte Künstler aber graben sie tiefer, setzen nicht nur auf politische Parolen, sondern wollen die Ursachen verstehen, um das Übel an der Wurzel zu packen. Einen Masterplan haben auch sie nicht, aber sie wollen aufrütteln und zu einer echten Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Problemen inspirieren.
Wir trafen Ryan und Lee in Münster, wo Algiers an einem freien Tag ihrer Stadion-Tournee mit Depeche Mode ein mitreißendes Headline-Konzert im Gleis 22 absolvierten. |
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1. Was ist eure Definition von "guter Musik"?
Ryan: Für uns als Band ist die beste Musik oft die, die in verschiedene soziale Kontexte eingebettet ist. Es geht darum, die Umstände zu verstehen, unter denen sie entstanden ist. Das möchten wir in allem ausdrücken, was wir tun: Reflektieren, wo etwas seinen Ursprung hatte. Das englische Wort "origin" ist ziemlich problematisch, aber anzuerkennen, dass stets verschiedene Schichten von Geschichte, Politik und Ausdrucksformen zusammenwirken, das ist für mich die Grundlage von guter Musik. 2. Was war der wichtigste Einfluss bei den Aufnahmen zur neuen Veröffentlichung? Lee: Das Wichtigste war sicherlich, dass wir inzwischen zu viert sind und Matt Tong nun mit uns spielt. Dass wir vor den Aufnahmen sehr lange auf Tour unterwegs waren - ich glaube, wir haben in den letzten Jahren 150 Shows gespielt -, hat unsere Herangehensweise sehr beeinflusst.
Ryan: Bevor wir unsere ersten Platten aufnahmen, waren wir (fast) vollständig funktionierende Erwachsene, die ein normales Erwerbsleben hatten. Dann plötzlich einen neuen Weg einzuschlagen und das zu verfolgen, was wir uns als Teenager erträumt hatten, war eine ziemlich einschneidende Erfahrung. Bei der neuen Platte haben wir viel mehr an uns geglaubt, denn auch wenn sich unsere Lebensumstände in ökonomischer Hinsicht kaum verändert haben, hat sich psychologisch eine Menge getan. Wir wissen jetzt, dass die Band etwas ist, das funktionieren kann. Bei der ersten Platte war das noch völlig anders: Das war vor allem eine Art Katharsis für uns, nachdem wir von der Arbeit nach Hause gekommen sind.
Ryan: Ja, es geht in erster Linie darum, dafür zu sorgen, dass unser Equipment gut in Schuss ist und dass wir alles beisammen haben, was wir brauchen, um auf Tour zu gehen, ganz besonders ein funktionstüchtiges Wurlitzer-Piano (Anm. d. Red.: Eine Anspielung darauf, dass das Wurlitzer der Band just beim Soundcheck in Münster wegen der Hitze das Zeitliche gesegnet hat). Außerdem haben wir Schulden abbezahlt, denn wir waren alle bis über die Ohren verschuldet (lacht)!
Ryan: Das ist mal eine richtig klassische Punkrock-Geschichte! Ich war erst mal Fan, bevor bei mir der Wunsch aufkam, selbst Musik zu machen. Meine Eltern hörten eigentlich gar keine Musik, vielleicht hatte mein Dad eine Handvoll Country-Platten oder so. Aber es gab ein Mixtape, das wir immer gespielt haben, wenn wir unsere Familie in Tennessee besuchten. Auf dem Tape war der Song "Ode To Billy Joe" drauf. Ich war von dem Stück vollkommen fasziniert, weil der Text so narrativ, so düster war. Irgendwie brachte mich das Lied dazu, darüber nachzudenken, wo ich herkomme und wie die Menschen gerne die düsteren Momente in ihrem Leben unterdrücken. Zur gleichen Zeit begann meine Schwester, sich für Musik zu interessieren. Sie hatte "Repeater" von Fugazi auf Tape und "Bizarre Ride II The Pharcyde" von The Pharcyde und ich hab mich da völlig reingesteigert, besonders in Fugazi, weil da das Artwork so minimalistisch war. Damals gab es ja noch kein Internet, und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wer die Typen hinter der Band waren. Ich erzählte meinen Freunden von "dieser unglaublichen Skinhead-Band", bis ich später rausfand, dass das natürlich Blödsinn war! Als ich 14 oder 15 war, hörte meine Schwester an meiner Schule das Gerücht, ich würde auf die schiefe Bahn geraten, als schickte mich meine Mutter in eine Baptistenkirche, wo sie Kids wie ich Häuser für die Bedürftigen bauen ließen. Dort traf ich auf eben jenen Clint, mit dem Lee zu seinem ersten Konzert gegangen war, und obwohl mich das Ganze ja eigentlich zurück in die Spur bringen sollte, kam ich durch ihn mit viel gefährlicheren Sachen in Kontakt: Straight Edge, Hardcore, Linkspolitisches, Antifa! Praktisch alles, was eine traditionelle Südstaatenfamilie absolut nicht gutheißen würde (lacht)! Zunächst war ich nur Fan, aber als ich dann die Band hörte, in der Clint und Lee spielten, wusste ich: Das will ich auch!
Ryan: Bei jeder Form von Kunst klafft immer eine Lücke zwischen dem, was du gerne ausdrücken möchtest, und dem, was du tatsächlich in der Lage bist zu leisten. Letztlich verbringst du dein ganzes Leben mit dem Versuch, dem Ideal nachzujagen. Ich denke, keiner von uns wird je so "satt" sein, dass er nicht mehr weitermachen möchte. Ich habe inzwischen verstanden - und das hat sich in mein Bewusstsein eingegraben -, dass es bei der Musik für mich darum geht, mich und das, was ich fühle, auszudrücken, Ideen zu kommunizieren, sie zu vermitteln und mit anderen Menschen zusammenzukommen. Mein Traum ist es deshalb, genau das weiterzuverfolgen. Das Ganze "Yeah, ich will, dass die Leute mich anhimmeln, ich will ein Rockstar sein" war nie mein Ding.
Lee: In einer Band zu spielen, ist ein konstanter Zustand des Versagens (lacht): Das Equipment spielt verrückt, du versägst einen Song oder kannst beim Schreiben deine Gefühle nicht richtig ausdrücken, aber echte große Niederlagen gibt es keine!
Lee: Vermutlich hätte ich jeden Tag eine andere Antwort auf die Frage, je nachdem, was gerade zu viel gedudelt wird, aber im Moment würde ich sagen: Wenn ich "The Thong Song" von Sisqo auch nur noch einmal hören muss, würde mich das ziemlich traurig machen (lacht).
Lee: Ich würde meine Helden nur ungern auf der Gästeliste haben, weil die Erfahrung einfach zu intensiv wäre und es vermutlich eine Menge Enttäuschungen gäbe. Ich hätte aber gerne die Helden der anderen auf der Liste, damit ich ihre Interaktion sehen könnte, Jimi Hendrix etwa oder Jonny Greenwood oder Matt Tong vor zehn Jahren! Dann könnte er sein heutiges Ich beobachten! |
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Text: -Gaesteliste.de- Foto: -Joe Dilworth- |
Aktueller Tonträger: The Underside Of Power (Matador/Beggars Banquet/Indigo) |
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