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Als gäbe es ein Morgen
Heutzutage ist der Umstand kaum vorstellbar, dass es mal OBSe ohne sonntäglichen Surprise-Act gegeben hat. Die liebgewonnene Tradition, am letzten Festival-Tag einen Act zu buchen, der vorher nicht verraten wird, hat Rembert inzwischen zu einer wahren Wissenschaft weiterentwickelt. In den letzten Jahren wurden durch das Aufstellen von Sichtblenden versucht, den betreffenden Act bis zur letzten Sekunde geheim zu halten. Da das aber noch nicht ausreichte (Die Nerven konnten etwa durch den charakteristischen Bühnenaufbau voran identifiziert werden), gibt es seit letztem Jahr zusätzlich einen Vorhang, der von Rembert erst dann ausgelöst wird, wenn der Auftritt des Surprise-Acts ansteht. Im letzten Jahr hatte das wunderbar geklappt, als sich das Alex Henry Foster Kleinorchester bereits auf der Bühne installiert hatte, als der Vorhang fiel. Das ging in diesem Jahr aber insofern schief, als dass die Musiker von Acht Eimer Hühnerherzen noch gar nicht auf der Bühne standen, als der Vorhang fiel.
Der Show des Ur-Berliner Akustik-Punk-Power-Pop-Trios tat das freilich keinen Abbruch. Denn Apocalypse Vega, Herr Bottrop und Bene Diktator hatten wirklich Bock auf ein erneutes Gastspiel beim OBS (obwohl es für Drummer Bene die wohl seltsamste Ansage in seiner Musikerkarriere war, als er das Publikum mit einem zünftigen „Guten Morgen“ begrüßte) – und außerdem hatte das Trio seit seinem 2022er Gastspiel beim OBS 24 im März des Jahres sein viertes Album „Lieder“ veröffentlicht – und demzufolge wieder was zu sagen. Mit heiterer Gelassenheit und selbstironischem Kompetenz-Geplänkel (Vega beklagte sich bei Herrn Bottrop darüber, dass er das Publikum unabgesprochen zum Mitmachen animieren wollte) schrammelten sich die Kreuzberger Anarchisten durch ihr Programm aus Agitation, Empowerment, Blödsinn und Wortwitz und hatten keine Mühe, das vollzählig angetretene Publikum erneut für sich einzunehmen. Tatsächlich stehen bei den Surprise-Gigs mittlerweile um 11:30 Uhr mehr Zuschauer vor der Bühne als bei manchem „normalen“ Festival-Act. Gleich danach begaben sich die Hühnis zum Meet & Greet-Stand und zeigten dort Volksnähe (aber bitte ohne Anfassen) und guten Geschmack – denn wie schon beim letzten Mal stürzte sich Herr Bottrop gleich wieder auf die bereitstehenden Erdbeeren.
Der zweite Slot des Tages war dann für eine Lesung auf der Hauptbühne vorgesehen. So etwas hatte es früher schon ein Mal gegeben, als Franz Dobler auf dem vierten OBS im Jahre 2000 diese Tradition begründete. Damals war das noch eine hemdsärmelige, improvisiert wirkende Aktion, die so recht keine große Begeisterung hervorrief (da es damals noch keine Überraschungsacts gab). In diesem Jahr war das allerdings etwas anders, denn Bela B Felsenheimer – seines Zeichens Drummer der Ärzte und etablierter Erfolgsautor – gab sich die Ehre, aus seinem neuen Roman „Fun“ vorzutragen. Das funktionierte erstaunlich gut: Auf der Bühne waren ein Lesepult und eine montierte Gitarre aufgebaut worden (die indes eher Stage-Prop als Instrument war), und die interaktiven Backdrops waren vom Glitterhouse-Team analog vom Balkon aus nachgebaut worden. Bela hatte somit keine Mühe, das Publikum mit dem schwierigen Thema (Missbrauch in der Musikszene) in seinen Bann zu ziehen – bis dann der erste Nieselregen des Tages einsetzte, der die nachfolgenden Veranstaltungen entsprechend beeinträchtigen sollte. Als es dann so richtig losging mit dem Regen, war Bela B schon auf dem Weg zum Meet & Greet, wo sich schon eine längere Warteschlange entwickelt hatte. Ein rustikaler Security-Agent sorgte im Rausschmeißer-Stil dafür, dass die Sache zügig absolviert werden konnte und sich die renitenten Meet & Greet-Veranstalter nicht etwa im eigenen Zelt aufhielten und etwa die Kreise des Meisters störten. Diese waren dann erst mal OBSdachlos (sorry – das musste einfach sein).
Der Auftritt der Kölner Band Smile war dann der erste, der an diesem Tag vollständig im Regen stattfinden sollte. Freilich ließen sich die Jungs und ihre charismatische Frontfrau, die aus Albuquerque stammende Kunststudentin Rubee True Fegan, davon nun so überhaupt nicht beeindrucken. Das lag vor allen Dingen daran, dass sich die Band auf der Bühne ihre ganz eigene, spannungsgeladene Welt erschafft. Smile werden gerne als „Postpunk-Band mit einer Sängerin, die sich weigert zu singen“ bezeichnet. Da ist insofern etwas dran, als dass sich Rubee ihre auf Gedichten und zornigen Fieberträumen basierenden Lyrics mit einer Art akklamativem Sprechgesang, sinistrem Minenspiel und einer ausgeklügelten, theatralischen Dramaturgie präsentiert. Mit Rap hat das Dank des soliden Postpunk-Backings der Kölner Jungs allerdings nichts zu tun. Wer nach Referenzen oder Ähnlichkeiten sucht, wird etwa bei der irischen Künstlerin Sinead O’Brien fündig, die mit einem ähnlichen Ansatz arbeitet – und wer nicht, konnte sich dann an der intensiven, kurzweiligen Smile-Show erfreuen. Die Frage, ob sie tatsächlich immer so wütend sei, wie sie sich auf der Bühne gibt – oder ob sie einfach Spaß an der theatralischen Darbietung habe, beantwortete Rubee mit einem nachdrücklichen „Beides!“
Die Hamburger Dream-Power-Pop-Band Willow Parlo um ihre sympathische Frontfrau Noemi Bunk hätte auf der Mini-Bühne eigentlich in gleicher Manier begeistern sollen, wie das in den Vorjahren die anderen OBS-Senkrechtstarter vorgelegt hatten. Leider beeinträchtigte der anhaltende Regen die beiden Auftritte dann doch erheblich, denn mittlerweile hatte sich im Bereich um die Minibühne eine erhebliche Menge schleimigen Matsches angesammelt, in der die ansonsten dort versammelten Kids langsam zu versinken drohten. Rein musikalisch spielte das keine große Rolle, denn wie üblich überzeugten Willow Parlo mit einem druckvollen Dreampop-Sound, den ausgezeichneten Kompositionen und sogar mit einer bis dato eher ungewohnten Spielfreude – inklusive angedeuteter Gitarrenduelle. Die Frage ist nur, ob die entscheidenden Personen das dann auch mitbekommen hatten, denn Willow Parlo demonstrierten – selbst unter den widrigen Umständen – zweifelsohne Mainstage-Appeal.
Auch Jesper Munk – der einzige Act aus dem Glitterhouse-Stall – hatte noch mit dem Regen-Problem zu kämpfen. So sehr sogar, dass sich zwei seiner Effektpedale mit Kurzschlüssen verabschiedeten. Das nahm er dann mit Humor und ließ sich die gute Laune nicht verderben. Ursprünglich sollte Jesper Munk zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn ja dereinst als neue Blues-Hoffnung aufgebaut werden. Es dauerte dann aber eine ganze Weile, bis er sich aus den Mechanismen des Musikbusiness freikämpfen konnte und als Indie-Künstler dann zu seiner eigenen musikalischen Identität finden konnte. Heutzutage spielt der Blues nur noch eine untergeordnete Rolle und Jesper hat sich mit seiner Band The Cassette Heads in einer recht eigenständigen Indie-Rock-Blues-Jazz-Postpunk-Nische eingerichtet, die offensichtlich so viel Crossover-Appeal emittiert, dass er heutzutage auf eine ständig wachsende, generationenübergreifend sortierte Fangemeinschaft zählen kann. Genau das Richtige für das OBS also. Letztlich ist Jesper zu einem richtigen kleinen Indie-Superstar herangereift ist, der sein eigentlich gar nicht so pflegeleichtes Material mit Charme, Witz und Können an die Fans heran trägt. Jedenfalls hatte er keine Mühe, den Nachmittag zur Mitternacht zu machen und sein mit vielen psychedelischen Effekten augmentiertes Noir-Material mit der notwendigen Intensität zu präsentieren.
Eine der unzähligen OBS-Überraschungen stellte im Folgenden der Auftritt der sympathischen Mannheimer Band Engin dar. Denn Sänger Engin Devekiran und seine Mannen haben mit ihrem Mix aus psychedelischem Indie-Pop und ebenso psychedelisch aufgebohrten anatolischen Rock-Elementen mit deutschen Texten schlicht eine eigene musikalische Genussmittelklasse erfunden und den künstlerischen Brückenschlag zwischen Okzident und Orient auf eine geradezu selbstverständliche Art und Weise realisiert. Das liegt vor allen Dingen an der souveränen, keinen Widerspruch duldenden Art, mit der sich die Jungs als gleichberechtigte Performer präsentieren. Bassist David Knevels, Engin als Sänger und Gitarrist und der singende Drummer Jonas Stiegler stehen in einer Reihe auf der Bühne und präsentieren sich als tight agierende Live-Band, die mit ihrer Begeisterung für das eigene Tun schlicht ansteckend wirkt.
Das Schweizer Quartett Soft Loft hatte kurz vor dem Start in die Festival-Saison noch schnell eine aktuelle EP namens „Modern Roses“ herausgebracht, die insbesondere in Bezug auf die darauf enthaltenen Balladen eine neue musikalische Richtung für die Band um die Songwriterin Jorinda Stamm aufzeigen könnte. Die Show auf dem OBS zeigte eine Band, die mittlerweile ihre musikalische Findungsphase abgeschlossen hat und sich im gewählten Dreampop-Setting – nicht ohne Rockdrive – eingerichtet hat; was sie eigentlich zu einem idealen Festival-Act macht. Jorinda Stamm führt die Band dabei mit heiterer Gelassenheit und gelegentlichen motivierenden Gesten durch das Programm, „duelliert“ sich dabei gelegentlich mit Keyboarderin Sabrina Schmidt und bemühte sich, das Publikum mit einzubinden – etwa mit einer Aktion, bei der die Tourbegleiterin passend zu dem Song „Paper Plane“ kleine Papierflieger ins Publikum zu werfen suchte. Zum Glück regnete es gerade da dann nicht.
Die Versteigerung des signierten Festival-Poster-Gemäldes zugunsten Viva Con Agua fiel aufgrund der Schlamm-Situation vor der Festival-Terrasse, auf der Rembert, Simon und das Maskottchen „Alpagua“ die Aktion leiten, in diesem Jahr weniger spektakulär und glamourös aus, es kam aber wieder ein erkleckliches Sümmchen zustande.
Am Vortag waren es ja die Good Looks, die den meisten Spaß auf der Bühne gehabt hatten. Dieser Preis ging am Sonntag zweifelsohne an die OBS-Veteranen Daily Thompson. Nachdem das Dortmunder Rock-Trio 2018 zum ersten Mal über die OBS-Bühne gewirbelt war und das Publikum mit dem ganz eigenen Mix aus Hard-, Blues- und Postpunk-Rock begeistert hatte, hatten sich Danny Zaremba und Mephi Lalakakis nicht lange bitten lassen, dieses Erlebnis mit dem neuen Drummer Thorsten Stratmann noch mal zu replizieren – zumal sie ja auch noch ihr aktuelles Album „Chuparosa“ im Gepäck hatten, auf dem sie ihren eh schon ekletischen Stilmix noch mal mit einer ordentlichen Portion Grunge angereichert hatten (denn das Werk wurde in Seattle einspielt).
Demzufolge wurden dann auch keine Gefangenen gemacht. Als gälte es zugleich, den Geist der 70er zu beschwören und zeitgleich einen Headbanger-Contest zu gewinnen, ließen insbesondere Danny und Mephi die Haare wirbeln und die Finger über die Saiten tanzen. Zumindest Mephi grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd und demonstrierte damit, dass es hier nur um kombinierte Spiel- und Lebensfreude gehen konnte. Kleine Randnotiz: Auf der besagten LP „Chuparosa“ gibt es ganze sechs überlange, komplex strukturierte Tracks. Die Show beim OBS vermittelte hingegen den Eindruck einer lebhaften Hardrock-Party-Session (obwohl Danny schon sehr ernsthaft an die Sache als Rock-Apostel heranging).
Als es daran ging, den letzten Act des Festivals anzukündigen, fand Rembert eine sehr schöne Formulierung, um das Phänomen der OBS-Nicht-Headliner zu beschreiben. Anders als bei anderen Festivals werden ja beim OBS nicht unbedingt die populärsten Acts als jeweils letzte Acts des Tages gebucht, sondern solche, die die Würde des OBS mit einer gewissen Portion Grandezza zum Ausdruck bringen könnten. Und einen solchen Act hatte Rembert mit dem Liverpooler Duo-Projekt King Hannah zweifelsohne gefunden. Hannah Merrick und Craig Whittle hatten bereits mit ihrer Debüt-EP „Tell Me Your Mind And I’ll Tell You Mine“ offene Türen in Sachen aufregender neuer Indie-Sounds aus dem United Kingdom eingerannt und hatten die ihnen daraufhin entgegengebrachten Vorschusslorbeeren mit ihren brillanten Alben „I’m Not Sorry, I Was Just Being Me“ und „Big Swimmer“ dann auch entsprechend eingelöst – und sich auch als theatralisch/enigmatischer Live-Act einen Namen gemacht. Auf der Bühne agieren King Hannah zusammen mit Bassist Conor O’Shea und Drummer Jake Lipiec als Quartett – wobei das Augenmerk (ob gewollt oder ungewollt) allerdings alleine auf Sängerin Hannah Merrick liegt, die das ganze Bühnengeschehen mit sorgsam kanalisierter Dramatik kontrolliert.
Da gab es allerdings einen kleinen Haken: Auf der parallel zu den Festivalauftritten verlaufenden Club-Tour hatte Hannah Merrick stets das rote Kleid getragen, mit dem sie durch das Video zu dem Song „Big Swimmer“ in einer Turnhalle herumgeistert war. In Beverungen war es an diesem Abend dann aber so kalt, dass sich Hannah gleich vom Merch-Tisch (wo sie bereits vor der Show für Umsatz gesorgt hatte) in Trainingshose und schwarzer Lederjacke zum Line-Check auf die Bühne begab – und sich dann auch nicht mehr umkleidete. Musikalisch tat das der Sache natürlich keinen Abbruch – rein optisch führte das dazu, dass Hannah im Dunkel des Gefechts dann nur gelegentlich wirklich zu erkennen war. Für die Show war die übliche King Hannah-Setlist dann um einige Titel eingekürzt worden, damit erstens der Zeitplan eingehalten werden konnte (was auch gelang) und zweitens dafür nicht die elaborierte Dramaturgie geopfert werden musste, im Rahmen derer die ganze Band dann die Spannungen auflöste, die sie zuvor mit Tracks wie „Somewhere In El Paso“ oder „Milk Boy (I Love You)“ erzeugt hatte. Interessanterweise musste das Publikum dafür nicht auf Rausschmeißer wie das grungige „New York, Let’s Do Nothing“ warten. Stattdessen erfolgten die bandinternen Explosionen – die oft genug in Gitarrenduellen zwischen Craig und Hannah endeten – bereits im Mittelteil der Songs „Go-Kart Kid (Hell No)“ und „Suddenly Your Hand“ – und dann auch nicht im Schweinerock-Modus, sondern eben mit der von Rembert angesprochenen Grandezza – und entsprechend überwältigenden Walls Of Sounds.
Hannah Merrick half nach der Show nicht etwa beim Abbauen, sondern eilte erneut zum Merch-Tisch, wo sich aufmerksame Fans bereits für Autogramme angestellt hatten. So volksnah waren King Hannah früher übrigens nicht. Ihre ersten Shows absolvierte das Duo mit einer gewissen professionellen Distanz. Erst nach ihrem Durchbruch mit dem „Big Swimmer“-Album hatte zumindest Hannah Merrick selbst die Nähe zu den Fans gesucht – und gefunden. Schön, dass es also auch Acts gibt, die erst über ihren Erfolg bodenständig werden. Und die gehören natürlich auf das OBS. Auch in diesem Sinn war dann diese Show ein mehr als würdiger musikalischer Abschluss des OBS 27 – der dann auch durch den elaborierten Drei-Tages-Witz um Herren, die so oder so gehen, Arztbesuche und zu kurze Hosenträger nicht mehr getrübt werden konnte.
Fazit: Das OBS 27 bot wieder jenen Mix aus Menschen, Tieren und Sensationen, Überraschungen, Highlights und Entdeckungen, über den sich gerade jene Fans, die sich nicht einer bestimmten musikalischen Subnische verpflichtet fühlen, so freuen. Dass dies gelingen konnte, ohne die früher übliche Dominanz von US-Acts zu bemühen (die einfach nicht mehr bereit sind, hierzulande zu touren bzw. vereinbarte Bookings als optional ansehen), spricht zum einen für die Übersicht und das Adressbuch des Festival-Machers Rembert Stiewe – und zum anderen ja auch für die Qualitäten der europäischen Indie-Szene, aus der die meisten der aufregenden Acts auf dem OBS 27 stammten. Trotz allem: Es wäre schon wünschenswert, wenn es wieder mal ein OBS geben könnte, das dann wettertechnisch weniger herausfordernd wäre. Aber es gäbe da ja eventuell noch einen Morgen.