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Der kanadische Musikus Evan Uschenko war auf dem besten Weg, sich in der Riege der schrulligen musikalischen Querdenker und Soundfrickler einzureihen, als er 2022 mit der Veröffentlichung des Debüt-Albums „Ghost Woman“ seine Laufbahn als Solo-Künstler einleitete, nachdem er zuvor in der Band seines inzwischen in den USA lebenden Landsmannes Michael Rault seine Sinne für Retro-Psychedelia geschärft hatte. Das änderte sich 2023, als er bei der Produktion des dritten Albums „Hindsight Is 50/50“ auf die belgischstämmige Drummerin Ille Van Dessel traf, mit der er sogleich eine musikalische Partnerschaft einging (und den Projektnamen von „Ghost Woman“ in „GHOSTWOMAN®“ änderte). Seither nämlich präsentieren sich Evan Uschenko und Ille Van Dessel – nicht nur aber vor allem auf der Bühne – als dynamisches Power-Duo, das sich in mehrerlei Hinsicht auf ideale Weise ergänzt und inspiriert und gleichberechtigt an dem gemeinsamen Material werkelt. War „Hindsight Is 50/50“ noch eine Art musikalischer Spielwiese, auf der Uschenko und Van Dessel sich erst mal sortieren und zusammenfinden mussten, ist das nun vorliegende, ironisch betitelte Album „Welcome To The Civilized World“ eine beeindruckende Songsammlung geworden, mit der das ungleiche Paar seine Vorliebe für Indie-Rock und Psychedelia insbesondere songwriterisch auf ein neues Level hievt.
Eben weil das neue Album so anders klingt als noch das letzte: Was hat sich denn für Evan und Ille (die inzwischen zwischen der kanadischen Provinz Alberta und der belgischen Wohnung pendeln) geändert? „Das Leben“, meint Ille verschmitzt – während Evan das ein bisschen analytischer sieht: „Das letzte Album haben wir in einem Live-Setting produziert“, erklärt er, „wir haben Songs gemacht und diese dann in einem Live-Setting ausprobiert und schnell eingespielt. Das letzte Album entstand ziemlich schnell in einem relativ engen Zeitrahmen. Das neue Album haben wir über etwa ein Jahr verteilt aufgenommen. Wir haben dann zwischen den Songs immer eine gewisse Zeit gelassen. Außerdem haben wir das Material nicht an einem Ort, sondern in verschiedenen Locations eingespielt. Wir haben dieses Mal auch anderes Equipment verwendet.“
Das erklärt dann vermutlich auch die etwas eklektischere Ausrichtung des Materials – denn neben klassischen Psychedelic-Drones wie z.B. „That Jesus“ finden sich dieses Mal auch regelrechte Indie-Pop-Hits wie etwa die Single „Alive“ auf dem Album. Andererseits gibt es auch Psychedelia-Drones, Schrammelpop und Grunge-Rock. Da muss man sich als Zuhörer schon selbst ein Bild schaffen, oder? „Ja, genau“, pflichtet Evan bei, „das ist dann ähnlich wie bei abstrakter Kunst. Da sieht jeder etwas anderes drin.“
Kommen wir aber mal auf die rein musikalische Ebene des Albums zu sprechen. Irgendwo stand zu lesen, dass Evan hier mit bestimmten Gitarrentypen experimentiert habe – etwa einer 12-saitigen bei dem Song „Alive“ – und auch er selbst sagt, dass das Equipment ausschlaggebend für den Sound des Albums war. „Ja, das ist so“, bestätigt er, „ich habe immer eine kleine Bibliothek von Soundideen in meinem Kopf. Wenn ich eine Gitarre zur Hand nehme, dann fließt das sozusagen aus mir heraus. Ich bin sehr daran interessiert, wie Sachen klingen. Deswegen bin ich sehr an älterer Musik interessiert, weil die für mich immer einen bestimmten Sound hat. Wir haben uns während der Aufnahmen auch ältere Filme wie ‚Good Fellas‘ angeschaut. Da gab es das auch so etwas zu beobachten, denn die Filmemacher haben für die Aufnahmen einen zeittypischen Filmtyp verwendet, den Kodak gar nicht mehr herstellt. Es gibt also keine Möglichkeit, dass je wieder etwas so aussehen wird, wie das, was mit diesem Filmtyp aufgenommen wurde. Ich mag so etwas auf der musikalischen Ebene. Als wir also ‚Alive‘ aufnahmen, versuchte ich, einen Sound zu finden, der nach dem klang, was ich im Kopf hatte. Als wir dann diesen Sound gefunden hatten, haben wir erst einen Song daraus gemacht. Wenn der Sound stimmt, dann fühlt sich das richtig an – aber wie du sagst: Erklären und absichtlich herbeiführen lässt sich das eigentlich nicht. Ich weiß also nicht, wonach ich eigentlich suche, aber ich versuche, etwas zu finden. Das ist dann fast schon eine Wissenschaft für sich.“
Wie entstehen die Songs dann für gewöhnlich? „Manchmal entstehen die Songs über einen Drumbeat – wie z.B. der Trance-Song auf der letzten Scheibe“, erklärt Ille, „das kommt aber auf den Song selbst an.“ „Ich würde sogar sagen, dass das meistens mit einem Drumbeat anfängt“, wirft Evan ein, „ich fühle mich sehr von Drumbeats inspiriert. Auf dem ‚Hindsight‘-Album kannst du ganz klar hören, dass die Drumparts die Gitarrenelemente befeuern – es ist alles sehr rhythmisch. Wir fangen also meistens mit einem Drumpart an, den Ille sich ausgedacht hat, und manchmal mit einem Gitarrenriff.“ „Aber niemals mit einer Gesanglinie“, gibt Ille zu bedenken.
Das alles lässt vermuten, dass die Texte im GHOSTWOMAN®-Universum keine so besonders prägende Rolle spielen, oder? „Ich schreibe Texte nie, bevor nicht alles andere fertig ist“, bestätigt Evan diese Vermutung, „wir legen unsere Songs wie ein Bett an. Wenn es sich als solches gut anfühlt, dann ist es einfach, etwas on top hinzuzufügen. Bei einigen wenigen Songs wie ‚Five Gold Peaces‘ kommen Text und Musik tatsächlich gleichzeitig zusammen – aber meistens entstehen die Texte erst ganz zum Schluss. Wenn ich Texte schreibe, dann habe ich nichts Besonderes im Sinn, sondern versuche, eine Melodielinie zu finden, an der ich mich dann entlang hangele und versuche, dann Worte zu finden, die wie die Sounds klingen. Aber im Wesentlichen geht es dann in Richtung ‚Soul Searching‘.“
Können wir uns denn darauf einigen, dass Evan und Ille ihr Leben über ihre Musik verarbeiten? „Ja, ich habe immer schon gesagt, dass, wenn ich Texte oder manchmal auch Musik mache, das eine angenehme Art für mich ist, dem richtigen Leben zu entfliehen“, meint Evan, „denn das richtige Leben kann ja doch zuweilen ziemlich ermüdend und verwirrend sein. Wenn man aber Musik macht – oder überhaupt etwas aus nichts erschafft – dann fühlt sich das für einen Moment so an, als mache alles Sinn. Musik zu machen ist in diesem Sinne eine Form der Therapie. Das habe ich immer schon gesagt.“
„Wir beide hatten auch Freunde, die im Laufe der letzten Jahre Selbstmord begangen haben“, gibt Evan zu bedenken, „als wir dann die Texte schrieben, mussten wir ein Thema wählen, das zum Ausdruck brachte, wie schwierig das Leben in unserer Welt für sensible Menschen heute eigentlich ist. Es gibt Menschen, die einfach aufgeben, Obdachlose, Suizidgefährdete und ängstliche Menschen. Vielleicht haben wir unsere Texte also aus der Perspektive von jemandem geschrieben, der die Hoffnung verloren hat.“
Geht es dabei auch um Wut? „Das will ich doch hoffen“, schmunzelt Evan, „ich bin jedenfalls ziemlich zornig über eine Menge Zeugs.“ „Ja, ich denke, es geht um den Zorn darüber, einfach nicht verstehen zu können, was gerade abgeht“, überlegt Ille, „das ist sehr frustrierend.“ „Es gibt eine Menge Dinge, die frustrierend sind“, ergänzt Evan, „ich bin zum Beispiel frustriert darüber, wie dumm die Menschen sind.“ „Ja, denn die dummen Leute werden berühmt und regieren heute die Welt“, stellt Ille klar, „das ist das eigentlich Frustrierende!“
Was ist denn dabei die eigentliche Herausforderung? „Etwas fertig zu stellen“, meint Evan, „die Aufregung, gemeinsam etwas zu erschaffen, ist das eine – aber die Sache dann zu Ende zu bringen, ist für mich dann das Schwierigste.“ „Da wir ja nur zu zweit sind und so intensiv in den Prozess eingebunden sind, kommen wir zuweilen an den Punkt, wo wir uns fragen, was wir eigentlich machen und ob das okay ist. Die gemeinsame Vision aufrechtzuerhalten, ist dann für mich das Schwierige. Man muss dann manchmal Dinge auch einfach gehen lassen und sich mit anderen Dingen beschäftigen.“ „Ja, zum Beispiel mit dem Business-Aspekt“, wirft Evan ein, „und das kann dann auch eine Herausforderung sein. Alles andere macht aber Spaß. Etwas Neues zu erschaffen, macht sowieso Spaß.“ „Das macht regelrecht süchtig“, gibt Ille zu bedenken, „das ist auch der Grund, warum wir so viel herausbringen. Wenn wir eine Scheibe fertig haben, sind wir schon wieder in einem ganz anderen musikalischen Universum – noch bevor diese veröffentlicht ist. Wir möchten einfach schauen, was uns möglich ist und herausfinden, wie die nächste Scheibe klingen könnte; denn das wissen wir selber dann ja noch nicht.“
Wir haben ja mittlerweile feststellen können, dass Evan und Ille nicht gerne mit Plänen und Konzepten arbeiten. Gibt es aber denn ein Ziel oder eine Vision, die musikalische Zukunft betreffend, die sie anstreben? „Ich habe keine Ziele oder Visionen“, räumt Ille ein – während Evan zumindest ein allgemeines Anliegen hat: „Ich möchte die Sache ein wenig vereinfachen“, gibt er zu Protokoll, „ich möchte, dass es noch etwas rauer klingt und ein bisschen pop-rockiger. Wir haben auch mit der Idee gespielt, ein Instrumentalalbum aufzunehmen.“ „Oder einen Soundtrack für einen Film“, meint Ille abschließend, „wenn uns da jemand hört, dann ruft uns bitte an!“
„Welcome To Civilized World“ von GHOSTWOMAN® erscheint auf Full Time Hobby.