Wann hat in den letzten Jahren jemand ein Dreifach-Album herausgebracht? Geht das überhaupt in Zeiten, wo vorwiegend einzelne Songs gestreamt werden, und wenn die nicht von Beginn an knallen, geskippt werden? Jeff Tweedy ist solche Überlegungen fremd. Er hat seine Schäfchen mit Wilco im Trockenen. Und was sich angesammelt hat, muss raus. Schließlich habe er Songs für noch zwei weitere Alben geschrieben. Dabei hat Tweedy in der vergangenen Dekade fünf Tonträger mit Wilco und fünf unter eigenem Namen veröffentlicht. Manches wirkte dabei nicht ganz ausgearbeitet („Sukierea“, „Star Wars“, „Schmilco“). Auch das neuste Werk „Twilight Override“ könnte bei oberflächlichem Hören leicht am Konsumenten vorbeirauschen. Da scheinen besonders die von Tweedys Akustikgitarre geprägten Stücke zunächst wenig Eindruck zu machen. Bei näherer Beschäftigung jedoch perlt ein Klavier, erklingt eine Violine, breitet sich ein Keyboardteppich aus. Da steckt viel Liebe im Detail, da gibt es zu entdecken. In immerhin 30 Songs.
„One Tiny Flower“ setzt Stimmung und Thema. „There is a crack, a crack in everything/That’s how the light gets in“, hat Leonard Cohen gesungen. Tweedys Variante klingt viel profaner: „The grass is growing all over town/From the cracks in the sidewalks where the shops shut down“. Und dazwischen wächst diese kleine Blume, die so leicht zertreten werden könnte. Es sind die kleinen Freuden des Lebens in einer fragilen Weltkonstruktion. Die Blume symbolisiert den Kreislauf des Erblühens bis zum Verwelken, was eben auch die menschliche Existenz erfasst. Mit dieser Erkenntnis franst das Stück am Ende irrlichternd aus. „KC Rain (No Wonder)“ beginnt mit dem Vers „I was born a little sad“. Der Satz könnte das Motto der gesamten Platte sein, sagt Tweedy in einem Interview mit Robin Hilton. Tweedys Vater war Alkoholiker, die Mutter eine Stütze. Die Ehefrau erkrankte schwer, mit seinen Söhnen teilt er die Leidenschaft für die Musik. Freud und Leid, die miteinander in Einklang zu bringen sind. Kindheitserinnerungen, scheinbar belanglose Alltagsbegebenheiten – vieles bleibt textlich so vage und offen, dass Raum für eigene Assoziationen bleibt.
Tweedy liebt die Zeit in seinem Studio. Zu dem Video von „Feel Free“ sieht man ihn zwischen allerlei Instrumenten und Aufnahmegeräten im Kreise seiner beiden Söhne Spencer und Sammy sowie James Elkington, Sima Cunningham, Macie Stewart und Liam Kazar. Sie stimmen in Refrains mit ein, besonders hübsch in dem an- und abschwellenden Chorus von „Blank Baby“, die sie aus einer kuscheligen Keyboard-Wolldecke herauslugen. Bei „Cry Baby Cry“ hört man leises Lachen und Gerede, als säßen alle ums nächtliche Lagerfeuer. Zu „New Orleans“ erzählt Tweedy, dass er eines Abends seinen Söhnen die Nachricht vom Tod des mit der Familie eng befreundeten Produzenten Steve Albini übermittelte und sie gemeinsam weinten und trauerten. Nichts davon lässt sich in den Lyrics wiederfinden, aber die Erinnerung habe die Stimmung des Liedes geprägt. Ähnlich rätselhaft bleibt die Behauptung „Lou Reed Was My Babysitter“. Der Sprechgesang, die stoischen Gitarrenlinien, der mechanische Schlagzeug-Beat und am Ende ein punkig gegrölter, sich wiederholender Vers. Die Attitude ist Reed-like. „Parking Lot“, noch so eine Kindheitsreflexion, hatte Tweedy in sein Smartphone gesprochen. Obwohl er Hörbücher hasse, fand sich keine adäquate gesangliche Umsetzung und so entstand eine Atmosphäre, die an Van Morrisons „On Hyndford Street“ erinnert. Im Hintergrund Stewarts leicht angeschrägte Geige.
Tweedy kann sich an diesen Arrangement-Ideen freuen. Stolz sei er, dass er die eiernde E-Gitarre im Mittelteil von „New Orleans“ genauso hinbekommen habe, wie er sie im Kopf hatte. Zu „Feel Free“ habe er Tonnen von Versen geschrieben. 18 Strophen und gut sieben Minuten sind geblieben über Freiheiten, die man sich nehmen sollte, und augenzwinkernd vorgestellte Entscheidungen: „Let It Bleed or Let It Be“. Der Folkpop von „Out In The Dark“ klingt optimistischer, als der Text vermittelt: Die Zweifel bleiben, wie das Störfeuer der dröhnenden E-Gitarren-Coda unterstreicht.
Vielleicht hätte es ein Doppelalbum auch getan. Wer sich aber für knapp zwei Stunden auf Tweedys neues Angebot einlässt, der sage an, welche Stücke gestrichen werden sollten. „Twilight Override“ sollte gehört werden, wenn sich der Tag neigt, der Mensch in der Abenddämmerung zur Ruhe kommt. Eine Ruhe, die das putzige Langzeitvideo ausstrahlt, das vom Beifahrersitz aus eine Autofahrt Jeff Tweedys in nur einer Einstellung zeigt, und der Soundtrack ist das neue Album. Dies endet passend mit „Enough“. Das Leben birgt zwar allerlei schmerzvolle Erfahrungen und es ist mitunter „hard to stay in love with everyone“, aber hey, man muss sich aus der Gemütsdämmerung befreien, wenn man noch mehr von diesem Leben will. Und von diesem außergewöhnlichen Künstler.
„Twilight Override“ von Jeff Tweedy erscheint auf dBpm Records/Sony.




