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Sci-Fi-Musical aus dem All
202 Millionen Fans folgen Katy Perry allein auf Instagram. Die Deutschland-Etappe ihrer „Lifetimes“-Tour ist da trotz üppiger Ticketpreise wenig überraschend komplett ausverkauft und startete acht Tage vor ihrem 41. Geburtstag in Hannover. Zahlreiche junge Frauen haben sich Perry-mäßig gestylt: mit blauen Perücken, glitzernden Röckchen oder Overknee-Stiefeln. Mit einem futuristischen Spektakel bedient Perry die Generation Spotify. Fast jeder Song knallt vom ersten Takt an, meist mit enormem Ohrwurm-Potential. Das gilt live auch für die sieben Stücke des aktuellen Albums „143“ mit den kühlen Maschinen-Beats. Gar acht Songs stammen von dem Dance-Pop-Erfolgsalbum „Teenage Dream“. In einer Art Videospiel-Show tritt die US-Amerikanerin auf fünf Levels, denen jeweils eine Handvoll Songs zugeordnet ist, gegen eine künstliche Intelligenz namens Mainframe an. Eine Art dystopisches Musical, aufgeteilt in fünf Akte wie in einem klassischen Drama.
Die Einheizerin gibt Becky Hill. Im Vereinigten Königreich hat die ehemalige The Voice UK-Halbfinalistin bereits etliche Hits gelandet. Auf einem Lichtquader performt sie ihre etwas formelhaft konstruierten Electro-Dance-Songs. Während Katy Perry sich von einer Live-Band begleiten lässt, kommt bei Hill die Musik zu „My Heart Goes (La Di Da)“, „Gecko (Overdrive)“ oder „Remember“ aus der Konserve. Die meisten stört das nicht.
Dann pulsierende Beats. Filmsequenzen mit Katy Perry flimmern über zig Bildschirmanimationen auf der riesigen Projektionswand. Ergänzt durch sich küssende Pärchen oder begeistert in die mobilen Kameras winkende Menschen aus dem Publikum. Dann Licht aus. Alles schwarz. Plötzlich Laserstrahlen, die eine VR-Brille zeichnen, mit der wir in Katys Videospielwelt hineingezogen werden. „The game of lifetimes“ verkündet eine Stimme aus dem Off. Bilder einer Welt in Flammen, die Natur zerstört, der Mensch von Maschinen kontrolliert. Die Rettung: KP143. Ein Wesen, halb Mensch, halb Maschine. Aus einer Luke im Boden gleitet Katy Perry als mit Schläuchen verbundener Maschinenmensch zwischen drei Ringen in die Höhe. Eine Konstruktion, die an Marias Transformation in „Metropolis“ erinnert. Unten angekommen nehmen sie acht Tänzer mit allerlei futuristischen Utensilien in Empfang. Mit der Exposition des ersten Akts und dem Song „Artificial“ wird der Konflikt mit dem KI-Bösewicht eingeführt.
Auf Level 2 erreichen wir die „Woman’s World“. Perry hat sich für Umweltschutz, Menschenrechte und Gleichberechtigung engagiert. Und den Song „Woman’s World“ mag man als eine der vielen Antworten auf James Browns „It’s A Man’s Man’s Man’s World“ ansehen. Die Frage drängt sich aber auf, ob Feminismus bedeutet, in Band und Tanzgruppe nur eine Frau dabeizuhaben und einen Junggesellinnenausflug ins All zu feiern. Raketen als Spielzeuge nicht nur für reiche Männer. Perry hat für den Raumschiff-Trip viel Schelte bekommen – aber machen wir Besucher eines Mega-Konzerts, das für enormen Strom- und Treibstoffverbrauch verantwortlich ist, uns nicht mitschuldig an einer miserablen Ökobilanz? Andererseits: Wer braucht nicht mal eine Auszeit von den Katastrophen der realen Welt? Immer politically correct und vernünftig? Wer lässt sich nicht allzu gern mitreißen von dem visuellen Spektakel in Katys Welt? – Also zurück auf Level 2. Mitten im Publikum liegt ein Laufsteg, der einer Acht gleich an die einfache Form einer Carrera-Autorennbahn erinnert. Oder ist es das Unendlichkeitssymbol? Wo sich die Wege kreuzen, bläst sich eine überdimensionale Frauenfigur auf, die über sich eine käfigartige Weltkugel hält, die nach oben gezogen wird. Ein wunderbarer Tummelplatz für Perry und ihre Tänzer, um dort allerlei Kunststücke zu vollbringen. Es ist der Akt mit der größten Hitdichte: „California Gurls“, „Teenage Dream“, „Hot n Cold“, „ Last Friday Night (T.G.I.F.)“ und die erste Single „I Kissed A Girl“, die 2008 zündete wie eine, nun denn, Rakete. Von „Peacock“ gibt es nur ein Schnipselchen, schließlich sei der schlüpfrige Text nichts für Kinder, verkündet Mama Perry etwas heuchlerisch.
Akt 3 führt mit dem gleichnamigen Song vorübergehend ins „Nirvana“. Perry fliegt an einem Drahtseil zwischen Blütenplattformen hin und her. „My heart goes la da-da-dee-dee“ singt sie in „Crush“ mit Schmetterlingen im Bauch, die später noch eine Rolle spielen werden. Dann „I’m His, He’s Mine“, eine weitere Single vom aktuellen Album „143“. Die Zahlenkombination steht als Kürzel für die Buchstabenanzahl in der Wortfolge „I Love You“. Und immer wieder von innen beleuchtete Herzen auf der Bühne und im Publikum.
Ganz irdisch gerät das Zwischenlevel 3.5 mit dem Motto „Choose your own adventure“. Der emotionale Höhepunkt: Eine Brasilianerin macht ihrer Partnerin auf dem Laufsteg einen Heiratsantrag, dazu singt Perry das Wunschlied „Double Rainbow“, macht Erinnerungsfotos und gibt Ratschläge für eine glückliche Ehe. Ausgerechnet Katy Perry, die die eine oder andere Beziehung hinter sich und – aktuell in den Schlagzeilen – eine neue mit dem kanadischen Ex-Premier Justin Trudeau begonnen hat. Dann noch „All The Love“, Perrys Tochter aus der Ehe mit Orlando Bloom gewidmet.
Akt 4: Der Konflikt spitzt sich zu. Wir sind wieder in der Zukunftswelt. Der KI-Bösewicht Mainframe erhebt sich erneut. Und auf der Projektionsfläche fliegt Superheldin Katy durchs All, vorbei an feuerspeienden Drachen. Zurück auf dem Bühnen-Schlachtfeld, nun im BH mit roten Lämpchen und Straps-Stiefeln, schwingt sie zu „E.T.“ ein Lichtschwert, vertreibt mal eben einen Sandwurm, der vom Wüstenplaneten herübergekrochen ist, um schließlich mit Schüssen aus ihrem Maschinen-Handschuh den Schurken zu erledigen. Musik gibt’s dazu auch: „Rise“ mit Unterstützung durch den Publikumschor. Und eine metallische Kugelkatze à la R2-D2 hat wohl mitgeholfen, wenn auf dem Videoscreen unzählige Schmetterlinge in die Freiheit flattern.
Im letzten Akt wird Level 5 erreicht: Das Happyend wird zelebriert. Genug Herzen wurden eingesammelt, tausende Handylichter haben die Superheldin unterstützt. Glück, Freude und Liebe kehren mit den Schmetterlingen symbolisch zurück, das geknechtete Volk ist gerettet. Nun reitet die Siegesgöttin zu „Roar“ auf einem Riesenschmetterling über den Köpfen der euphorischen Fans. Wieder auf dem Laufsteg gelandet und begleitet von ihren Tänzern, dreht Perry im Glitzerbikini auf Silberstiefeln ihre Runden. „Daisies“, „Lifetimes“ und „Firework“ bilden das umjubelte Finale. Dann versinkt Perry endgültig im Bühnenboden. Zugaben sieht die perfekt durchchoreografierte Show nicht vor.
Ein langer Weg der Pastorentochter Katy Hudson, die mit 16 ein Gospel-Rock-Album mit christlicher Ausrichtung vorlegte, bis zu Katy Perry, dem Popidol und Maschinenmenschen aus dem All. Und wer sich nicht als moralinsaurer Spaßverderber gefällt, durfte sich prächtig unterhalten lassen. Eher Musical als klassisches Drama freilich.