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Bahnfahren mit Timmy, Lisbeth und Isi
Vielleicht wäre noch Platz für ein Dutzend Leute. Aber mit 640 Gästen ist die 60er-Jahre-Halle im Kulturzentrum Faust nahezu ausverkauft. Die Höchste Eisenbahn zieht offensichtlich ein generationsübergreifendes Publikum an. Was alle vereint, ist das hohe Mitmachpotential. Dazu laden viele der zwanzig Lieder der Setlist ein. Die Berliner bieten einen aufgeräumten Indiepop, der live deutlich rockiger ausfällt als auf den Tonträgern.
Als Support gibt das Frauen-Duo Momcore ihr Bühnendebüt. Die sympathisch rüberkommenden Berlinerinnen haben zwischen Stillen, Windelnwechseln und Wäschebergen Zeit gefunden, ihren Mutteralltag in Songs zu überführen. Momcore steht für bequeme Kleidung, geeignet zur Kinder-Bespaßung. „War mal cool, jetzt bin ich müde“ steht auf dem transparenten Überwurf der Sängerin Stefany de Beurs. Doch so desillusioniert wirken die Musikerinnen keineswegs. Johanna Amelie (Keyboard, Gesang) und de Beurs haben sich für die Bühne eine zweite Keyboarderin hinzugeholt, um einen Elektrosound aus flächigen Synthieklängen und rhythmischem Geplucker zu kreieren. Sie bieten Brieffreundschaften an und singen Jungeltern schulterzuckend aus der Seele. Mögen Momcore genug Momcare widerfahren und ausreichend Kita-Zeit, um neue Songs zu schreiben.
Francesco Wilking und Moritz Krämer werden sich bei ihrem Auftritt mehrmals bei Momcore bedanken und Applaus einfordern. Den bekommen die beiden natürlich vor allem selbst. Der Wechselgesang der Frontmänner von Die Höchste Eisenbahn wächst sich in den Refrains zum vierstimmigen Chor aus, wenn Schlagzeuger Max Schröder und Bassist Felix Weigt mit einfallen. Wilking bedient zwar überwiegend Keyboards und Synthesizer, Krämer sieht man meist an akustischer oder elektrischer Gitarre, aber abgesehen vom Hocker hinter den Drums werden die Plätze an den Instrumenten häufig getauscht. Zwischen den Songs beömmeln sich die Berliner über sich selbst, diskutieren, ob man vor dem Hannover-Auftritt skeptisch gewesen sei, um die Stadt dann als Rock City zu feiern. Wilking sieht sich als der „Tim Wiese des Indierocks“, dabei wirkt er gar nicht so peinlich wie der zum Show-Ringer mutierte Ex-Torwart von Werder Bremen. Eine putzige Anekdote handelt von einer Vampirmama und ihrem Kind – sind das die Nachwirkungen von Momcore?
„Die Bahn fährt heute die ganze Nacht“, singen die Eisenbahner. Und liebgewonnene Charaktere und Songtitel-Figuren fahren mit. Mit einem tiefen Erschöpfungsseufzer aus dem Saal beginnt „Timmy“. Der Bursche dreht auf, bringt es zu einer 18-Schlafzimmer-Villa, in der John Lennons weißes Klavier steht. Die linke Seite des Publikums singt „Aha“ und die rechte antwortet mit einem „La la la la“. Das schönste Lied der Band ist „Isi“. Freund Robert will Isi halten, doch sie steigt in die Straßenbahn. Robert gibt nicht auf, schlägt die Scheibe ein und gibt ihr einen Kuss. Wilking erweitert die Geschichte, denn bald sitzt Isi an der Masterarbeit. „Wie jedes Märchen geht auch dieses gut aus. Der Vorhang fällt, die Meute klatscht Applaus“ – da lassen sich die textkundigen Fans nicht bitten.
Und „Lisbeth“ ist natürlich auch dabei. Es ist eines dieser pseudo-naiven Abzählreim-Lieder: „Eins für die Hoffnung/Zwei für die Angst/Drei für die Dinge, die du mir nicht sagen kannst“. In „Bürotage“ preist das lyrische Ich seine Freundschaftsdienste an: „Montag, Dienstag, Mittwoch sind meine Bürotage, da kann ich leider nicht. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag bin ich da.“ Schön, wer solche Angebote machen kann.
Gerade in ihrer unverstellten Herangehensweise beleuchten Die Höchste Eisenbahn Alltagssituationen, chaotische Beziehungen und feiern trotzdem das Leben. „Was machst du dann?“ schreit der Saal befreiend heraus, wenn die Berliner sich an überfüllte WGs erinnern. Und wenn Krämer und Wilking fragen, wo denn die „Kinder der Angst“ seien, schallt ihnen ein kollektives „Hier!“ entgegen. Und weil die Schilderung einer Liebe so hübsch selbstironisch daherkommt, verträgt der Refrain von „Blume“, der letzten Zugabe, auch seine romantische Metapher: „Sag all deinen Freunden, am besten noch heute: Unsere Liebe wird aufgehen wie eine Blume, wie eine Bluuuume.“
Schön, dass die Band nach vier Jahren Pause und allerlei Solo-Projekten wieder auf Tour ist. Der melodiöse Indiepop erhält über die Keyboards immer mal einen zappeligen NDW-Einschlag, mitunter schrammeln die E-Gitarren, dann spielt Weigt ein bezauberndes Piano, um zu „Egal wohin“ einen funkig kreiselnden Bass anzuschlagen. Alle vier singen mutmachend aus vollen Kehlen: „Niemand weiß so gut wie ich, was gut für dich ist. Wir sind alle Menschen, wir sind alle gut.“ Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.































