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Der Mix macht’s
Das Heimspiel-Festival auf dem Draiser Hof im malerischen Eltville am Rhein hat schon lange den Status der intimen Familienveranstaltung des Hauses zu Knyphausen – auf dem Gastgeber Gisbert zu Knyphausen mit ein paar Freunden für ein paar Freunde im elterlichen Garten musizierte – gegen den eines Sommer-Festivals eingetauscht, das heutzutage als gut geöltes Familienfestival insbesondere mit seinem umfangreichen Rahmenangebot und dem beeindruckenden musikalischen Programm eine Ausnahmestellung einnimmt. Auch in diesem Jahr beeindruckte das Line-Up dann durch eine subjektiv gestaltete Zusammenstellung, die eben nicht das Programm zeitlich konkurrierender Festivals, sondern den persönlichen Geschmack der Festivalkoordinatoren Gisbert zu Knyphausen und Benjamin Metz widerspiegelt – und gerade dadurch eine garantierte Alternative zu den anderen Veranstaltungen bietet. Das Prinzip der musikalischen Wundertüte kommt an – denn regelmäßig ist das Festival bereits ausverkauft, bevor das Line-Up bekannt ist.
Auch in diesem Jahr wurde das inzwischen dreitägige Heimspiel-Festival durch ein umfangreiches Zusatzangebot ausgeweitet, das dann kaum Wünsche offenließ. Zahlreiche Angebote wie z.B. diverse Wein- und Sekt-Tastings, Kinder-, Kunst- und Körperertüchtigungskurse, zahlreiche kulinarische Attraktionen, der nach der Pandemie reaktivierte „Heimspiel-Liner“, Souvenir- und Merch-Stände, Poesie-To-Go, eine eigene Kinder-Tribüne und nicht zuletzt die Möglichkeit, mit dem eigenen Wohnmobil gleich beim Festival-Gelände parken zu können und mit der ganzen Familie auf Picknick-Decken vor der Bühne zu verweilen (sofern Wetter und Andrang das zulassen), machten das Festival auch in diesem Jahr wieder alternativlos für Musikfans, die mit der Familie eine Auszeit vom grauen Alltagsleben nehmen wollten. Ach ja: Tiere sind auf dem Festivalgelände zwar nicht zugelassen, aber zwischen den Weinreben wurden dann musikkundige Schafe als lebende Rasenmäher eingesetzt und eine Schar zutraulichen Geflügels bewachte den Weg vom Gelände zur Camping-Wiese.
Ein besonderes Lob galt in diesem Jahr dem sorgsam ausgewogenen Booking, das in seiner subjektiven Konsequenz einen fast schon bildungstechnischen Charakter angenommen hatte. Anstatt nämlich zu versuchen, den Fans, die am lautesten schreien, ihre Repertoire-Wünsche zu erfüllen, hatten die Kuratoren nämlich wieder ein exquisites Programm aus bekannten und unbekannten Newcomern, etablierten Acts links der Mitte und echten Geheimtipps organisiert, das erneut bestätigte, dass der Reiz des Festivals eben nicht im Erfüllen von Erwartungshaltungen, sondern im gebotenen Mix ohne stilistische Schwerpunkte liegt.
Los ging es am Freitagnachmittag mit dem Auftritt der inzwischen in Berlin lebenden, aus Wien stammenden Noir-Künstlerin Edna Million – die keine Mühe hatte, im strahlenden Sonnenschein ihre schwarze Seele musikalisch von innen nach außen zu kehren und das Publikum mit ihrem inspirierten Kaputnik-Blues-Sound, ihrem exquisiten Styling und vor allen Dingen ihrer überraschenden Alt-Stimme in ihren Bann zu ziehen. Die Sache ist dabei die: Edna Million schreibt großartige Songs mit wunderbaren Texten, in denen sie auf poetische Art mit ihren Dämonen ringt (wovon in den neueren Tracks die meisten wohl in Berlin wohnen) oder interessante philosophische Überlegungen anstellt – legt aber bis heute größten Wert darauf, die Songs solo zur halbakustischen Gitarre vorzutragen, obwohl das Material von der Struktur her durchaus für Band-Arrangements taugen würde. Nachdem das aber erst mal klar ist, steht das Tor zur Schattenwelt Ednas sperrangelweit offen und es bedarf dann auch keiner besonderen Aufforderung mehr, hindurchzutreten.
Der zweite Slot des Tages war dann dem schwedischen Allstar-Intrumentalquartett Tonbruket zugeschlagen worden. Zu dem von dem Jazz-Bassisten Andreas Berglund gegründeten Kollektiv gehören heute der Gitarrist Johan Lindström (der auch schon für Elvis Costello in die Saiten griff), der Keyboarder/Geiger Martin Hederos (The Soundtrack Of Our Lives) und der Drummer Andreas Werliin (Wildbirds & Peacedrums) – alles Musiker also, die nicht aus dem klassischen Jazz-Umfeld standen. Auf der Bühne erzeugen die Herren heutzutage einen dezidiert organischen Mix aus Jazz-, Fusion-, Prog-, Kraut- und Psychedelia-Sounds, der von der versöhnlich/melodischen Elegie bis zur experimentellen Avantgarde-Extase reicht. Tatsächlich erschaffen Tonbruket mit diesem Ansatz ein ganz eigenes Klanguniversum, in dem man mit stilistischen Charakterisierungsversuchen schnell Schiffbruch erleidet. Nur so viel: Der songorientierte Ansatz, dem sich Tonbruket zuletzt über ihre Kollaborationen mit dem Songwriter Christian Kjellvander angenähert hatten, spielte bei dieser Show keine große Rolle – da war alles im kollektiven Fluss.
Als Headliner für den ersten Tag hatten sich die Kuratoren einen recht eigenwilligen Act ausgesucht. Schon mit dem Projekt Balthazar hatte sich der belgische Musiker Maarten Devoldere einen Namen als begabter Allrounder gemacht. Da ihm die Musik von Balthazar aber wohl zu konventionell gewesen war, hatte er bereits 2016 mit seinem eigenen Projekt Warhaus für Aufhorchen gesorgt. Sein aktuelles, viertes Album „Karaoke Moon“ – das es nun auf dem Heimspiel vorzustellen galt – stellte dabei den bisherigen Höhepunkt in Sachen musikalischer Exzentrik dar. Diese brachten Devoldere und seine Musiker dann auch mit Intensität, Theatralik und einer Prise Wahnwitz entsprechend auf den Punkt – auch wenn bei der Ansage darauf hingewiesen wurde, dass man bei dieser Show auch gerne tanzen dürfe.
Unter einer Art künstlichem Himmel turnte insbesondere Devoldere selbst mit einer Mischung aus Ausdruckstanz und Overacting auf der Bühne herum und präsentierte das Material mit einem Mix aus Talking-Blues, Torchsong-Crooning und klassischem Rock-Gesang. Einen entsprechenden Widerhall fand das dann in der Musik, die von schwelgerisch orchestralem Glam-Pop mit Bläsereinsätzen à la „I’m Not Him“ bis hin zum abstrakten, impressionistischen Rezitativ à la „Jim Morrison“ so ziemlich alles zu bieten hatte. Das eigentliche Highlight war dann aber nicht etwa ein eigener Song, sondern der mit dem Publikum als Karaoke-Nummer dargebotene Klassiker „My Way“. Devoldere wurde ja im Heimspiel-Info mit Nick Cave und Tom Waits referenziert (was von der Schrulligkeit her schon mal passte): Nun kam eben noch Frank Sinatra hinzu. In Sachen Showmanship boten Warhaus auf jeden Fall beste Unterhaltung. Wäre nur mal interessant zu erfahren, ob das alles so ernst gemeint ist, wie es schien.
Der zweite Tag begann dann traditionellerweise wieder mit zwei Touren des Heimspiel-Liners – auf denen dieses Mal der reklusive Liedermacher und Podcaster Hannes Wittmer für die musikalische Unterhaltung sorgte. Zwar ist es nun schon fünf Jahre her, dass Hannes sein Alias „Spaceman Spiff“ hinter sich gelassen hat – aber sein Ruf von damals war ihm wohl nachgeeilt, sodass das Publikum tatsächlich großteils aus Fans bestand, die die Texte seiner Moritaten mitsingen konnten. Nach einem Burnout im Jahre 2021 und einer Auszeit in Frankreich fand der Würzburger Musiker zuletzt wieder zur Kunst zurück und präsentierte auf den Liner Touren ein buntes Potpourri aus seinen – zugegebenermaßen meist traurigen – Songs, die er allerdings öfter mit einem ironischen Augenzwinkern präsentierte. In klassischer Songwriter-Manier versucht Wittmer dabei, über seine Lieder dem Leben einen Sinn abzuringen – womit er immerhin insofern erfolgreich ist, dass es keine Mühe braucht, seine Songs nachvollziehen zu können. Als das Programm eigentlich schon fertig hatte, klatschten die begeisterten Zuschauer so lange weiter, bis der Meister sich dazu hinreißen ließ, so lange weiterzuspielen, bis der Liner bereits wieder am Haltepunkt bei der Burg Crass anlegte.
Während die Fans noch auf dem Rückweg vom Heimspiel-Liner zum Festivalgelände waren, fanden dort schon diverse Tastings für Weine, Sekt, Käse und Makronen statt. Als erster musikalischer Tagespunkt auf dem Gelände stand derweil die Songwriterin Philippa Kinsky bereit, zusammen mit ihren Kolleginnen Nina Caroline und Jo The Man The Music – beides Songwriterinnen in eigenem Namen, wie sie betonte – das Publikum mit ihren melancholischen, englischsprachigen Indie-Pop-Songs einzustimmen. Philippa präsentierte dabei ihre charmanten Selbstfindungs- und Coming-of-Age-Songs mit jener Art von leichtfüßiger feministischer Nonchalance, die man auf anderen Festivals mit weniger breit gefächertem Spektrum kaum finden wird. Der Gedanke, den zweiten Festival-Tag mit einer Prise authentischer, organischer Pop-Musik einzuläuten, ist jedenfalls mittlerweile zu einer schönen Tradition geworden. Philippa überzeugte auf der musikalischen Seite mit der aggressionsfreien Darbietung, dem stimmigen Harmoniegesang und der routinierten Präsentation des ansprechenden Songmaterials. Nur die Fans bei jedem zweiten Song zum Mitsingen aufzufordern, hätte nicht unbedingt sein müssen.
Die fleischgewordene Antithese zu Philippa Kinskys sanftmütigem Ansatz stand danach in Form des schottischen Rockmusikers Samuel Nicholson und seiner Band auf der Bühne. Gisbert erwähnte bei der Ansage, dass er auf Nicholson über die allgegenwärtigen Streaming-Algorithmen aufmerksam geworden war und seither Fan des Briten sei. Nicholson bezeichnet in seiner Bio sein aktuelles Album „Birthday Suit“ als „dysfunktionales Selbstporträt“. Damit ist sicherlich auch gemeint, dass er – nach einer Serie von Panik-Attacken – erst vor kurzem entdeckte, dass er autistisch ist.
Das erklärte dann auch die eigenartigen Verrenkungen und Grimassen, mit denen er seine Performance beim Heimspiel unterlegte – ganz so, als fechte er den Kampf mit seinen psychischen Plagegeistern auf der Bühne aus. Der Musik kam das insofern zugute, als dass der brachiale Indie-Hardrock, den sich Nicholson als Metier ausgesucht hat, so mit einer ungeheuren Intensität und Unerbittlichkeit auf die Zuschauer einwirkte. Musikalisch greifen Nicholson und seine Musiker dabei sowohl zu den Mitteln der Altvorderen wie Neil Young & Co., orientieren sich aber auch an der Klangästhetik moderner Indie-Rock-Outfits wie z.B. Big Thief. Ein besonderes Markenzeichen bilden dabei Nicholsons gutturaler Gesang – und eben die seltsamen Verrenkungen und Grimassen. Immerhin: So etwas bleibt dann auch im Gedächtnis – und zwar nicht nur bei Rockfreunden. Dafür trug dann auch der Haus- und Hoffotograph Jonas Werner-Hohensee Sorge – der während des Festivals mit seiner Plattenkamera die grandiosen Porträt-Fotos der beteiligten Künstler macht, die dann am Eingang auf der Wall Of Fame zu sehen sind. Denn der machte sich einen Spaß daraus, bei der Show von Nicholson & Co. seine Kamera auf der Bühne aufzubauen und damit eine Weitwinkel-Aufnahme des ganzen Bühnengeschehens und des Publikums zu machen.
Vor den heute üblichen Mechanismen des Musikbusiness ist natürlich auch das Heimspiel nicht gefeit. Wie in diesem Jahr auch anderswo zu beobachten, betrachten gewisse Bands (oder eher die betreffenden Booker) Festival-Buchungen wohl öfter mal als optional – und sagen dann kurzfristig ab, wie in diesem Falle die belgische Combo Personal Trainer, die wohl auf zwei Festivals parallel angemeldet war. Fix war indes ein Ersatz für den nun frei gewordenen Slot gefunden worden: Der ursprünglich aus der Pfalz stammende Musikus Nils Keppel wurde mit seiner Band aus dem Urlaub gerufen und hatte sich bereit erklärt, für Personal Trainer in Vertretung einzuspringen. Gitarrist Raphael Bella stand sogar auf der Bühne, obwohl ihm gerade ein Weisheitszahn gezogen worden war. Jeder, der sowas mal mitgemacht hat, weiß, was das bedeutet.
Auch sonst fühlten sich Keppel & Co. den klassischen Rock-Traditionen verpflichtet und präsentierten sich optisch als durchgestylte Retro-Superstar-Truppe mit Glam- und Drag-Flair. Musikalisch rocken Keppel und seine Jungs dann auch recht ordentlich – allerdings nicht so, wie die Outfits nahegelegt hätten. Nominell rechnet sich Jens Keppel nämlich der sogenannten NNDW (Neue Neue Deutsche Welle) zu – aber nicht der poppigen Subnische des Genres, sondern – wenn es denn schon Vergleiche braucht – den abrasiven Anfängen verpflichtet, als Bands wie Abwärts, Palais Schaumburg oder die versöhnlicher gewordenen Einstürzenden Neubauten mit akklamativem Sprechgesang, dystopischen Rocksounds und wenig Songstrukturen die Welt der Musik für sich entdeckten. Dem eifert Keppel mit Stücken wie „Wellblech“ oder „Kein Himmel über Berlin“ heutzutage erfolgreich nach. Im Vergleich zu den Studioproduktionen kommen die Sachen auf der Bühne dann mit brachialer Gewalt zum Tragen. Showmäßig können Keppel und seine Jungs da mit den besten um die Wette posen – aber die bloße musikalische Machtdemonstration bei gleichzeitig dezidiertem Verzicht auf erkennbare Songs irritiert dann doch ein wenig.
Aber wie gesagt: Beim Heimspiel geht es ja nicht um das Erfüllen von Erwartungshaltungen, Partikularinteressen Einzelner oder um das Mitsingen als solches – sondern um das menschliche Gesamtpaket – und das stimmte ja in jeder Hinsicht auch dieses Jahr wieder.