Als „Indie-Folk-Künstlerin“ möchte uns die Promo die britische Songwriterin Ruth Lyon verkaufen. Nichts könnte irreführender sein, denn außer dass ein paar akustische Instrumente auf dem brillanten Debüt-Album „Poems & Non Fiction“ zu finden sind, hat das Ganze – sowohl auf der musikalischen wie auch der inhaltlichen Seite – so gar nichts mit Folk-Musik zu tun. Das fängt damit an, dass Ruth Lyon nicht die Gitarre, sondern das Klavier als Leitinstrument sieht und hört noch lange nicht damit auf, dass das zuweilen wunderlich arrangierte Werk von John Parish auf einer leichtfüßig psychedelischen Ebene zum Leben erweckt wird (und der würde sich niemals bereit erklären, ein geradliniges Folk-Album zu fabrizieren). Auf der Suche nach Begrifflichkeiten, mit denen sich die Musik Ruth Lyons in Worte fassen lassen ließe, stößt man dann auf solche Begriffe wie Kook-, Chamber- oder Baroque-Pop, was das Ganze aber auch nur unzureichend umreißt.
Es sind vor allen Dingen dann die bereits angesprochenen, von Ruth Lyons und John Parishs Beiträgen geprägten Arrangements, die den Charakter des Albums (mit Unterstützung des Multiinstrumentalisten Tommy Ach) in besonderer Weise prägen. Neben dem maßgeblichen Klavier sind es dann Streicher- und Bläser-Elemente, die neben analogen Synthesizern, E-Piano, Orgel, Dulcimer, elektrischen Gitarren-Effekten, Solo-Klarinette und einer akustischen Rhythmusgruppe das Geschehen prägen. Das Ganze wird dann – mal opulent, mal transparent oder reduziert – zu einem vielschichtigen Geflecht verwoben, das aber stets genug Raum für Ruth Lyons fast schon beruhigenden, zurückhaltenden Gesang lässt, der auf eine unschuldige Art im interessanten Kontrast zu den zuweilen düsteren Aspekten ihrer Lyrics steht.
Und dabei sind wir dann beim entscheidenden Punkt angelangt – und der ist Ruths ungewöhnlicher Umgang mit der Sprache und der Poesie geschuldet. Das wird schon durch den Titel des Albums deutlich, denn Ruth hat sich hier schließlich dem Normalmenschen vermutlich bislang eher verborgen Spannungsfeld zwischen Poesie und Sachliteratur gewidmet. So erzählt sie etwa in dem maßgeblichen, auch als Single veröffentlichten Schlüsseltrack die Geschichte eines von Bücherstapeln umgebenden Sonderlings, der sich zwar an den Covern, Farben und Schrift-Fonts erfreut, aber genau weiß, dass er diese Bücher niemals lesen wird. „This is the whole picture“ singt sie da und ergänzt: „No big reveal – surrounded, alone, unreal.“ Das Stichwort ist dabei zweifelsohne „unreal“ – denn das ist der Eindruck, der sich auch über Ruths andere Songs vermittelt, die mit rätselhaften Bildern aus einer alternativen „Alice In Wonderland“-Perspektive gespickt sind. Im weitesten Sinne scheint es Ruth Lyon um spirituelle, persönliche, politische und soziale Veränderungen und deren Wahrnehmungen zu gehen. Dabei greifen ihr dann mythische Figuren wie der „Wickerman“ oder „Caesar“ oder gar die Jahreszeiten im abschließenden „Seasons“ unter die Arme, um den Kreislauf des Lebens greifen zu können. Schlüsselsätze wie „I’m everything I’m not“, „I need a new religion“ oder „My skin is crawling – I want to shout“ ziehen sich dabei als Landmarken durch Ruths Wirken – und lassen sich dabei als „wissenden Nicken zur Absurdität des Lebens“ (wie es auf ihrer Bandcamp-Seite heißt) interpretieren.
Ruth Lyon fiel dabei aber nicht als Meisterin vom Himmel. Bevor sie 2020 ihre Solo-Karriere einleitete, war sie bereits als Frontfrau der (wie sie aus Newcastle stammenden) Band Holy Moly & The Crackers tätig – über die wir auch schon öfter berichteten. Gegen Ende der Pandemie-Phase veröffentlichte sie ihre erste EP „Nothing’s Perfect“ (auf der sie bereits ein anderes ihrer Leitmotive – die Kritik am Perfektionsstreben unserer Tage – zum Thema machte). Hier – wie auch auf einigen Singles, mit denen sie ihre Zusammenarbeit mit John Parish begründete – entwickelte sie den Stil, der nun auf ihrem Debütalbum zu voller Blüte gereift ist. Auf der internationalen Ebene reüssierte sie bereits mit Shows im UK, in New York oder den Niederlanden. Bei uns kommt Ruth Lyon – nach ihrer Headliner-Tour in Großbritannien – im November auf eine erste Solo-Konzertreise.
„Poems & Non Fiction“ von Ruth Lyon erscheint auf Pink Lane/Rough Trade.