Share This Article
Eine regelrechte Frühstarterin ist die britische Songwriterin Yoshika Colwell aus der Grafschaft Kent eigentlich nicht gerade. Denn obwohl sie schon lange Songs schreibt und mit dem Gedanken gespielt hatte, ihr Glück als Musikerin zu versuchen, ist ihr nun vorliegendes Debüt-Album „On The Wing“ das Ergebnis einer langen Phase der Selbstfindung und Reflexion. Vorbereitet durch eine erste Sammlung von Demos, die sie 2023 einspielte und der Veröffentlichung ihrer ersten, offiziellen EP, die 2024 unter dem Titel „There’s A Time“ folgte, bezeichnet Yoshika das Album nun als „eine Art Schrein für all die prägenden Erfahrungen, die mich in meinen Zwanzigern geformt haben“. Tatsächlich ist das Album dann auch eine Art Reisebericht geworden – aber nicht einer, der die Hörer von Ort zu Ort führt, sondern durch den Lauf der Zeiten, oder?
„Ja, das ist eine schöne Art, das auszudrücken“, bestätigt Yoshika diese Vermutung, „das macht mich ganz emotional, das zu hören, denn das Album steht für die Arbeit eines Jahrzehntes. Es geht um Erinnerungen, Erfahrungen, Orte und Emotionen. Ich liebe es, Tagebücher zu schreiben – und habe das immer schon gemacht – und ich denke, dieses Album ist eine andere Form von Tagebuch.“
Ist dieses in dem Album behandelte Kapitel von Yoshikas Leben damit dann abgeschlossen? „Nicht abgeschlossen, aber doch zumindest beendet“, führt Yoshika aus, „diese Phase meines Lebens in einem Album zu verarbeiten und all diese Erfahrungen und Erinnerungen zusammenzuführen, hat eine kathartische Wirkung für mich gehabt.“ Das heißt also, dass Yoshika über ihre Songs ihr Leben verarbeitet? „Ja, denn wenn ich schreibe, decke ich manchmal Sachen auf, von denen ich selbst gar nicht wusste, dass sie existieren. Das ist der Grund, warum ich gerne nach dem Prinzip „Stream of Consciousness“ schreibe.“
So ist auch der Song „A Poem About Walking“ entstanden, in dem Yoshika Gedanken an Tagebucheinträge und ein Gedicht über einen Spaziergang zu einer Reflexion über eine Beziehung ohne erkennbares Ziel zusammenführt.
Allerdings hören sich Yoshikas Texte zuweilen doch eigentlich sehr strukturiert an und enthalten beispielsweise Reime, Aphorismen und sogar Wortspielereien. „Ja, das liegt daran, dass zwar viele Sachen sich zunächst mal einfach so ergießen – ich dann aber nach Reimen oder so etwas suchen muss. Dabei würde ich gar nicht sagen, dass sich Poesie immer reimen muss. Es ist aber so, dass mein Hirn so strukturiert ist, dass ich gelegentlich – aber nicht immer – auch in Reimen denken und schreiben kann. Es ist dann eine Mischung aus Inspiration und Arbeit.“
Na ja – das Dichten kann man ja nicht wirklich lernen. Allein Reime auf Worte zu finden, macht ja noch lange kein Gedicht. „Da stimme ich wohl zu“, bestätigt Yoshika, „ich lese gerade ein Buch namens ‚Animal Joy‘, in dem es um Clownerie und Lachen geht. Es enthält auch ein Kapitel über Poesie. Gedichte zu schreiben kann dann schwierig werden, wenn man versucht, ein Gedicht nach Art eines anderen zu schreiben, um einen Gedanken zu vermitteln. Dann kommen sich das ‚falsche‘ und das ‚wahre‘ Ich ins Gehege. Man muss sich dann treu bleiben – was aber dann für Außenstehende oft nicht mehr verständlich ist. Ach, ich weiß nicht: Ich schreibe unheimlich viel – nicht notwendigerweise viele Songs, sondern viele Wörter. Das finde ich befreiend. Ich bin dankbar, die Möglichkeit zu haben, mich so über die Musik ausdrücken zu können – auch ohne gute Noten beim Gitarre-Spielen oder einen Abschluss in Englisch zu haben.“
Ist das dann auch die Funktion, die die Musik in Yoshikas Leben einnimmt? „Musik ist etwas, was ich niemals nicht machen könnte“, führt sie aus, „sie hat für mich eine geradezu spirituelle Wirkung – obwohl ich eigentlich nicht religiös bin. Es sind diese ungreifbaren Dinge und die Art, auf der Musik die Zeit beeinflusst, die mich reizen. Ich denke nämlich viel über die Zeit nach. Das klingt wie ein Klischee – trifft es aber. Ich bin die letzten 17 Jahre immer wieder auf die Musik zurückgekommen, wie ein Hund zu seinem Knochen zurückkommt. Musik ist in diesem Sinne auch sehr therapeutisch für mich.“
Gilt das nur für die Texte, oder auch für die musikalische Seite? „Ich weiß nicht“, zögert Yoshika, „ich muss sagen, dass ich keine versierte Instrumentalistin bin, aber Gitarre spielen zu können, ist dann ein Werkzeug für mich, mich ausdrücken zu können. Meine Kompositionen sind demzufolge nicht besonders komplex, aber mir ist das egal. Ich denke eh immer, dass ich nicht gut genug bin.“
Kommen wir mal zum Titel des Albums: Warum heißt es „On The Wing“? Zwar gibt es einen Song namens „Fighting On The Wing“ – der aber den Titel nicht wirklich erklärt. „Der Song enthält viele der Metaphern, die ich auf dem Album versammelt habe“, führt Yoshika aus, „es geht um die Zeit, die Familie, die Beziehung der Generationen, Dinge, die uns überliefert wurden, oder Dinge, die wir schuldig bleiben – obwohl wir sie gar nicht brauchen. Ich denke, dass der Titel des Albums sehr befreiend ist, weil er impliziert, dass man befreit in der Luft über den Dingen stehen kann. Man stellt sich über die Dinge, kann sie aber noch sehen – ist aber nicht ständig involviert. Man ist so nicht mehr festgefahren, braucht aber auch nicht alles in Schubladen zu stecken und wegzuschließen.“
Das Thema kommt auch in dem Single-Track „There’s Got To Be A Loser Babe“ zum Tragen – in dem Yoshika ihre Erfahrungen und Erkenntnisse mit einer Prise augenzwinkernden Humors in der stoischen Feststellung manifestiert, dass es eben ultimative Wahrheiten nicht geben kann, man sich nicht immer entscheiden kann oder muss und Erinnerungen keine Empfehlungen für die Zukunft sein können. Musikalisch wählte Yoshika hier das Format der opulent arrangierten Indie-Pop-Ballade.
Wie sieht Yoshika Colwell selbst eigentlich ihre musikalische Entwicklung? Zwar wird sie allenthalben als Englands neue Folk-Hoffnung gepriesen – aus ihrer Musik lässt sich aber so viel mehr heraushören, als das Bedürfnis, genau diesem Format entsprechen zu wollen. Was sind die Dinge, die Yoshika Colwell musikalisch inspirieren? Joni Mitchell gehört auf jeden Fall dazu – denn diese führt sie gleich im Opener „On and On“ namentlich an.
„Na ja, das ist ein eklektischer Mix“, räumt Yoshika ein, „als ich aufwuchs, hörte ich viel Kate Bush – die ich bis heute verehre und deren etwas experimentellere Seite ich liebe. Ich denke da an die zweite Seite von ‚Hounds Of Love‘ mit diesen esoterischen, abstrakten Songs wie ‚Jug Of Life‘ oder ‚Dream Of Sheep‘. Ich liebe deshalb auch die späteren Alben von Talk Talk. Ich bin zwar keine Jazz-Spezialistin, aber ich mag auch Jazz. Beispielsweise diese viertelstündige Version von Keith Jarretts Interpretation des Billie Holiday-Songs ‚God Bless The Child‘. Als Kind habe ich aber auch Trance-Musik gehört und World-Music wie Leftfields ‚Leftism‘. Offensichtlich mag ich aber auch Joni Mitchell und Crosby, Stills, Nash & Young und diese Laurel Canyon-Vibes, John Prine, Anna McGarrigle und Lucinda Williams – aber auch Radiohead. Tatsächlich mag ich es aber, zwischen all diesen Inspirationen hin und her zu springen, denn manchmal ermüdet mein Geist, wenn ich nur eine Sache anhöre und dann auf genau die andere Seite des Spektrums wechsle. Musikalisch stehe ich auch auf Sachen ohne Text, weil ich diese repetitiven Muster mag – besonders in der elektronischen Musik. Ich suche nämlich manchmal nach Sachen, die mein Hirn beruhigen.“
Es wäre nun ein bisschen zu viel zu behaupten, dass sich all das aus dem Album „On The Wing“ heraushören ließe – tatsächlich bietet es aber eben mehr als bloße Folk-Vibes. Und dann ist da noch das Projekt „This Weather“, das Yoshika mit dem Improvisations-Spezialisten Sam Beste a.k.a. The Vernon Spring lostrat, kurz bevor es zu den Aufnahmen der LP ging.
„Oh, das war eine unglaubliche Erfahrung“, meint Yoshika begeistert, „das war etwas ganz anderes, als das, was ich zuvor gemacht hatte, und alles sehr improvisiert – sozusagen die andere Seite des Spektrums. Das war eine ganz freie Art, sich auszudrücken, und das kam der Stream-Of-Consciousness-Technik des Schreibens sehr nahe. Das war dann sozusagen das vollkommenste musikalische Erlebnis, das ich je hatte, denn wir haben alles auf eine fast schon kindliche Art zusammen improvisiert – was sehr befreiend war. Ich würde das gerne auch für meine eigenen Projekte übernehmen, denn ich denke, dass so etwas auch den Sound prägen könnte. Und zwar in dem Sinne, dass man dann nicht mehr nach der Perfektion sucht – denn die Perfektion kann dem Ganzen die Seele entziehen.“
Bis Yoshika Colwell mit ihrem Album in unseren Breiten auf Tour gehen kann, wird es noch eine Weile dauern, denn zunächst stehen Termine im GB und Support-Shows an. Vermutlich wird es erst im Frühjahr nächsten Jahres so weit sein.
„On A Wing“ von Yoshika Colwell erscheint auf Blue Flowers/PIAS.