Platte der Woche KW 20/2024
Zwar übertreibt es Beth Gibbons bezüglich ihres aktuellen Albums „Lives Outgrown“ ein bisschen mit dem „Gut Ding“, das Weile haben will und dem, was gut wird, was lange währt – denn immerhin ist es satte 22 Jahre her, dass Gibbons mit dem Rustin Man-Projekt originäres eigenes Material vertonte. Selten aber hat sich langes Warten für den Hörer so ausgezahlt, wie bei diesem Magnum Opus der legendären ersten Trip-HopDiva.
An eigenen Songs hatte Gibbons schon eine ganze Weile gearbeitet – kam aber nicht so recht weiter, als es darum ging, geeignete Arrangements für das Material zu finden, denn von den Schemata und Rezepten vergangener Tage wollte sie sich bewusst absetzen. Die Sache kam dann ins Rollen, als Gibbons zusammen mit dem ehemaligen Talk Talk-Drummer Lee Harris nach einem geeigneten Drumsound suchte, dabei zufällig gegen einen Karton trat und sich fragte, ob daraus nicht ein geeignetes Sounddesign entstehen könnte. Eines kam zum anderen und nachdem sich Beth zunächst an Holzschubladen, Tupperware und Pfannen mit Erbsen versucht hatte, stieg Harris ein und am Ende bestand sein „Drumkit“ aus einer Paella-Schale, einem Blech, Teilen des Mischpults und einer Wasserflasche aus Rindsleder, die er als Snare-Ersatz verwendete (nicht, dass das rauszuhören wäre, denn das „Kit“ wurde mit weichen Pauken-Klöppeln gespielt.) Beth Gibbons schließlich besorgte dann noch einige obskure Instrumente, bat den Produzenten James Ford sich der allgemeinen Klangsuche anzuschließen und dann konnte es losgehen.
Und wie klingt das Ganze? Nun seltsamerweise wie ein Soundtrack zu einem Roman des „Sheltering Sky“-Autoren und Nordafrika-Fan Paul Bowles. Das hängt einerseits damit zusammen, dass der Sound der aus Alltagsgegenständen zusammengewürfelten Perkussion und die Tribal Methode des Spiels in Tracks wie „Burden Of Life“ oft einen orientalischen Charakter annimmt, dem ebenfalls perkussiven Gitarrenspiel – das in seiner spröden Frugalität oft an den Klang afrikanischer Saiteninstrumente erinnert (etwa bei dem Track „For Sale“) – und andererseits an den sich in atmosphärische Sphären schraubenden Streicherarrangements bei Songs wie „Rewind“, in denen sich auch immer wieder exotische Klangwelten entdecken lassen, sowie nicht zuletzt an den abenteuerlichen Vokal- und Chor-Arrangements, die dieser Gemengelage ebenfalls zuträglich sind – beispielsweise in dem Track „Floating On A Moment“, wo man den Beduinen-Chor quasi vor dem geistigen Auge vorbeiziehen sieht. Alle diese Elemente kommen dann schließlich in dem Schlüsseltrack „Lost Changes“ zusammen – der dann auch noch eine einnehmende Melodie ins Spiel bringt.
Freilich ist das mit der Nordafrika-Assoziation ein rein subjektiver Eindruck. Es gibt sicherlich noch andere Möglichkeiten, sich in den wunderlichen Klangwelten zu verlieren, die Gibbons und ihre Mitstreiter für dieses Album erzeugten (und erfanden). So wartet der Opener „Tell Me Who You Are Today“ mit Prog-Ambitionen auf oder begeistert der mit einer lyrischen Querflöte unterlegte Closer „Whispering Love“ mit einer geradezu erfrischend naiven Hippie-Atmosphäre. Kurzum: Selten hat jemand so konsequent, innovativ und radikal mit der musikalischen (und konzeptionellen) Vergangenheit gebrochen, wie Gibbons und ihr Team das für dieses Projekt machten. Das gilt übrigens auch für das Songwriting, für das Beth Gibbons mit der Tradition brach, sich nicht über die Inhalte ihrer Lyrics auszulassen und einräumt, dass sie sich mit diesem Album von ihrem alten „Ich“ und der Vergangenheit absetzen wollte. „Das Album ist das Ergebnis einer Zeit anhaltender Reflexion und Veränderung – und ‚vieler Abschiede’“, meint Gibbons selber. Letztlich ist es dann auch kein Wunder, dass das Ganze zehn Jahre in Arbeit war, denn solch ein monumentales Werk schüttelt man nicht mal eben aus dem Ärmel.
„Lives Outgrown“ von Beth Gibbons erscheint auf Domino/GoodToGo.