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Es ist bemerkenswert: Mehr als 15 Alben hat Chris Brokaw inzwischen als Solist veröffentlicht, und obwohl sie alle fraglos seine Handschrift tragen, klingt doch keins wie das andere. Besonders deutlich spürbar ist das auf „Ghost Ship“, seinem just auf dem amerikanischen Connaisseur-Label 12XU veröffentlichten neuen Album, auf dem der in Cambridge, Massachusetts, heimische Tausendsassa einmal mehr die Spielregeln ändert, aber dennoch weiterhin all das verinnerlicht, was ihn seit all den Jahren auszeichnet. Düster und atmosphärisch klingen die neuen Songs, deren bisweilen unwirkliche, ja unheimlich anmutende Stimmung das Resultat von ganz viel Reverb und dem besonderen Klang einer Teisco-Del-Ray-Gitarre ist.
„Ghost Ship“ ist selbst für Chris Brokaws Verhältnisse eine ungewöhnliche Platte. Denn auch wenn der inzwischen 60-jährige Musiker selbst das Album als Songwriter-Platte sieht, darf man sich beim Hören dennoch einbilden, dass hier sein Faible für experimentelle Instrumentals im Ambient-Dunstkreis, wie sie vor zwei Jahren auf dem Limited-Edition-Album „Live At The Decommissioned Power Station“ zu hören waren, mit seiner Liebe zu songwriterischer Direktheit, die auf dem 2021er-Rock-Album „Puritan“ die Richtung vorgegeben hatte, auf eine Art und Weise zusammenfließen, wie man das zuvor von ihm noch nicht gehört hat.
Abgesehen von einem einzigen lauten, wüsten Ausreißer, stehen auf „Ghost Ship“ Songs mit frei fließenden, effektbeladenen Gitarrensounds im Mittelpunkt, die bisweilen „Twin Peaks“ in Erinnerung rufen und an anderer Stelle bereits Vergleiche mit Roy Montgomery und Flying Saucer Attack inspirierten. Es sind Lieder, die sich langsam entfalten und dabei wie in Watte gehülltes Unbehagen trotz ihrer Sanftheit bisweilen zutiefst beunruhigend wirken. Anders gesagt: So klingt ein Musiker, der in seiner vier Jahrzehnte umfassenden Karriere viele Höhen und Tiefen gesehen hat und sich trotzdem entschieden hat, nicht aufzugeben, und nun mehr denn je Musik macht, in der alles kann und nichts muss.
Im Gaesteliste.de-Interview verrät Brokaw, wie sich die Begegnung mit einem belgischen Gitarrenbauer, die Geister der Vergangenheit und seine ausgiebigen Konzertaktivitäten mit seiner alten Band, den Slowcore-Helden Codeine, auf „Ghost Ship“ niedergeschlagen haben.
GL.de: Chris, welche Rolle spielt die Musik heute in deinem Leben – und wie hat sich das über die Jahre verändert?
CB: Musik spielt in meinem Leben viele verschiedene Rollen, vielleicht sogar mehr denn je. Die erste, die ich nennen würde, ist, dass ich jeden Tag Musik unterrichte, ich gebe Privatunterricht für Gitarre, Schlagzeug und Bass, etwa 16-18 Stunden pro Woche. Zwei Drittel meiner Schüler sind Kinder, 8-17 Jahre alt. Ein großer Teil meiner Tage und Abende besteht also darin, jungen Schülern zu zeigen, wie interessant und aufregend Musik ist und wie man dort hinkommt. Das ist derzeit wohl der größte Teil meines musikalischen Lebens, und es bedeutet mir sehr viel, ich ziehe mehr daraus, als ich jemals gedacht hätte.
Ich bin immer noch ein eifriger Hörer und suche ständig nach neuer (für mich jedenfalls) Musik. Ich bin jetzt ein größerer Sammler von Schallplatten und Musikzubehör (Gitarren usw.) als je zuvor in meinem Leben, was sich manchmal ein bisschen maßlos anfühlt, aber im Großen und Ganzen ist es in Ordnung.
Als Musiker und Komponist bin ich immer noch begeisterungsfähig und versuche, besser zu werden. Ich bin vor kurzem 60 geworden, und die einzige wirkliche Bedeutung, die das für mich hatte, war, dass ich mich entschlossen habe, mich wieder stärker als Künstler zu engagieren. Vor allem, um neue Kollaborationen zu suchen, um zu versuchen, neue Dinge zu tun, die ich noch nicht gemacht habe.
GL.de: Bei der Entstehung deines neuen Albums „Ghost Ship“ spielte eine Teisco-Del-Ray-Gitarre eine wichtige Rolle. Wie kam es dazu?
CB: Mein Freund Elisha von Martha’s Vineyard Ferries brachte mich mit einem Gitarrenbauer namens Flip Scipio zusammen. Flip hatte diese cool aussehende Teisco, die ein ungewöhnliches Set-up hatte, mit dicken Flatwound-Saiten und einer auf A heruntergestimmten 80er E-Saite. Ich spielte die Gitarre fünf oder zehn Minuten lang, gleichermaßen verwirrt und neugierig. Etwa ein Jahr später schrieb ich Flip und sagte: „Ich kann nicht aufhören, an diese Gitarre zu denken“, und er erklärte sich bereit, mir eine solche Gitarre zu verkaufen, mit genau diesen Einstellungen. Ich war mir eine Zeit lang nicht sicher, was ich damit anfangen sollte (außer wieder und wieder „Besame Mucho“ in c-Moll zu spielen), aber dann schloss ich sie an ein paar Hall- und Delay-Pedale an und drehte die Tonregler auf null, was den Sound wirklich unter Wasser gehen ließ, und ich dachte: „Hier!“ Ich wollte da dranbleiben und ein paar Songs entwickeln. Das Album habe ich dann für meine Maßstäbe ziemlich schnell, innerhalb von zwei Monaten geschrieben.
GL.de: Was macht diese Gitarre so einzigartig?
CB: Es geht wirklich um dieses Set-up, diese Saiten und dieses Tuning. Das kann man auch mit anderen Gitarren machen, allerdings nicht mit der Zielstrebigkeit, die ich bei dieser Teisco empfinde.
GL.de: Du hattest schon immer ein Faible für ungewöhnliche Gitarren. In den letzten Jahren hast du Mosrites gespielt und früher hattest du auch mal eine dieser außergewöhnlichen Dan-Armstrong-Plexi-Gitarren. Hast du das Gefühl, dass besondere Gitarren deine Kreativität besonders beflügeln? Oder könntest du das Gleiche auch mit einem billigen Fender-Imitat erreichen?
CB: Unterschiedliche Gitarren können mich dazu bringen, anders zu spielen. Bei Come habe ich eine Fender Jaguar gespielt, und mit dieser Gitarre spiele ich eine ganz bestimmte Art. Ich glaube nicht, dass ich „Ghost Ship“ ohne diese Teisco geschrieben hätte. Vor Kurzem habe ich eine Travis Bean ergattert und die Arbeit mit ihr war sehr interessant, sie hat eine ungewöhnliche Klarheit. Gitarren mit und ohne Jammerhaken bieten unterschiedliche Möglichkeiten….ohne einen fühlt es sich an, als würde ein Teil meines Vokabulars fehlen (was nicht immer etwas Schlechtes ist).
GL.de: Nachdem du diesen unwirklichen Unter-Wasser-Sound gefunden hast – wie haben sich die Songs dann weiterentwickelt?
CB: Ehrlich gesagt denke ich, dass ich zu einem ziemlich geradlinigen Songwriting übergegangen bin, was nicht unbedingt meine Absicht war. Ich wollte etwas mehr Vages, Elliptisches… vielleicht dann beim nächsten Mal! Im Nachhinein denke ich, dass das Album davon beeinflusst ist, dass ich einen Großteil der Jahre 2023 und 2024 Musik von Codeine gespielt habe.
GL.de: Du hast an anderer Stelle bereits erwähnt, dass dir ein Album mit acht Songs vorschwebte, bevor es am Ende neun wurden. Wie hat die Vorgabe eines Konzepts (auch wenn es nur lose war und am Ende nicht vollständig umgesetzt wurde) den kreativen Prozess verändert?
CB: Es bedeutete, dass ich genug hatte! Die acht Songs außer „Vampire Of Rathmines“ sind alle schnell entstanden, und ich mochte die Idee, dass daraus eine kurze Platte wird, vielleicht 31 oder 32 Minuten. „Vampire Of Rathmines“ sollte ein versteckter Track sein, aber ich mochte ihn so sehr, dass ich ihm einen Namen und einen Platz in der Reihenfolge gab. Außerdem fügte ich dem letzten Song, „Away From Me“, eine kleine Coda hinzu. So wurde es eine Platte mit neun Songs und 37 Minuten Länge…
GL.de: Du hast „Desertshore“ von Nico und „Raw Power“ von Iggy And The Stooges als Inspiration für die Idee mit den acht Songs genannt…
CB: Ich denke einfach, dass das wirklich starke Acht-Song-Platten sind. Acht Songs, 31 Minuten – in dieser Kürze muss jeder Song zählen! Sie müssen stark genug sein, um eine Festung verteidigen zu können. Jedes dieser Alben ist eine Art Festung, eine Deklaration, ein Verteidigungsmechanismus gegen die Welt. In den letzten Jahren habe ich mich intensiv mit den Aufnahmen beschäftigt, auf denen Nico allein zu ihrem Harmonium singt und spielt. Ihre BBC-Session von 1971 ist ein gutes Beispiel und leicht zu finden. Ich liebe es, wie puristisch sich das anfühlt, da gibt es keinen Platz für Bullshit. Ich glaube, das war eine Inspiration.
GL.de: Das Titelstück ist ein Instrumental, das die Stimmung seines Titels allerdings perfekt einfängt. Ist es mit dem Ziel entstanden, diesen Vibe einzufangen, oder hat es seinen Titel erst später bekommen?
CB: Ich habe es erst später benannt. Ich wusste allerdings, dass ich das Album „Ghost Ship“ nennen wollte. Ein Geisterschiff ist ein Schiff ohne Besatzung, das ewig um die Welt kreist… Ich fing an, mich wie ein solches zu fühlen: Als ob ich schon sehr lange gelebt hätte und nicht wüsste, was ich als Nächstes tun sollte oder wohin ich als Nächstes gehen sollte – und als ob ich eine Menge Geister mit mir herumtrage, von Menschen, die nicht mehr unter uns sind, und Menschen, die nicht mehr Teil meines Lebens sind.
GL.de: Dann ist da noch ein echter Ausreißer, das laute und punkige „Anything Anymore“. Wie hat es dieses Stück auf das Album geschafft und welchen Zweck erfüllt es für dich innerhalb der kompletten LP?
CB: Ich habe die Fuzzbox aufgedreht – und heraus kam dieser verrückte Sound! Es war aufregend! Das war schon alles. Es war eine Chance, ein wenig aus dem Format des Albums auszubrechen. Es war eine Chance, textlich trotziger zu sein: „I don’t thank God for anything anymore“. Mich wurmt die Vorstellung, dass ich als nüchterner Mensch einen Gott in meinem Leben haben muss. Ich habe keine komplett ausformulierte Meinung zu all dem, aber der Song grübelt darüber nach.
GL.de: Gesanglich hast du versucht, eine Entsprechung zu dem Unter-Wasser-Gitarrensound zu finden. Wie hat das die Gesangsperformance und den Mix beeinflusst?
CB: Das bedeutete, dass ich einige der Wörter und Silben wirklich in die Länge ziehen konnte. Es ist wirklich angenehm für mich, mit Hall und Delay zu singen. Die Abmischung war schwierig – man sollte glauben, eine Platte wie diese zu machen sei einfach, aber das Gegenteil war der Fall, auch, weil ich bisweilen nach widersprüchlichen Dingen gesucht habe: eine Unschärfe einerseits und eine Klarheit und Dreidimensionalität andererseits.
GL.de: Was war dir inhaltlich beim Schreiben wichtig?
CB: Eines der Hauptthemen ist das Überleben und die Entscheidung zu treffen, zu überleben. Das kommt in mehreren Songs vor. „Paloma“ zum Beispiel handelt von einem Freund, der kürzlich verstorben ist, und einige Textzeilen sind Auszüge aus Kurznachrichten, die wir uns gegenseitig geschickt haben – wie gesagt, es gibt so einige Geister. Das Album dreht sich um viele verschiedene Dinge und das Publikum kann sich seinen eigenen Zugang suchen.
GL.de: Eine letzte Frage: Du kannst sie auf die derzeitige politische Lage beziehen oder einfach auf deine eigenen Pläne für die nähere Zukunft: Wie geht’s weiter?
CB: Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas Interessantes oder Einzigartiges zur Diskussion über den Lauf der Welt beizutragen habe. Ich glaube aber, dass Kunst hilfreich und heilend ist, und deshalb werde ich auch weiterhin Musik hören und spielen. In einem Raum zusammenzukommen, um Live-Musik zu machen, fühlt sich im Moment sehr gut an. Sich mit anderen zu versammeln, hat jetzt eine neue Dringlichkeit und Wichtigkeit.
„Ghost Ship“ werde ich in unregelmäßigen Abständen solo touren – ich bin dazu übergegangen, viel kürzer auf Tournee zu gehen als in der Vergangenheit. Im April spiele ich in Italien und Frankreich und in Mexiko vom 6. bis 8. Mai. Anfang Juni werde ich auf dem Outpost-Florli-Festival in Norwegen spielen. Ich hoffe, dass ich im Herbst ein wenig in den USA und mehr in Europa spielen kann. Ich denke, Konzerte in Australien wird es im Februar 2026 geben. Ich spiele meine Musik auch in einem Trio mit Clint Conley am Bass und Luther Gray am Schlagzeug, das hoffentlich auch dabei sein wird.
Meine Band Lupo Citta arbeitet gerade an einem neuen Album, das im Januar 2026 bei 12XU erscheinen wird. Es gibt ein neues Pullman-Album, das später in diesem Jahr herauskommt. Codeine wird vielleicht im Oktober in Südamerika spielen. Ich habe auch eine neue Zusammenarbeit mit Tanya Donelly begonnen, von der ich sehr begeistert bin. Wir spielen mittelalterliche Musik, ich an der E-Gitarre und sie am Gesang. Wir haben gerade vier Songs aufgenommen und werden nächste Woche wieder ins Studio gehen, um weiter daran zu arbeiten.
Ansonsten schaue ich, wie alle anderen auch, wie der Wind sich dreht. In ein paar Stunden gehe ich zur Kundgebung auf dem Boston Common. Im Moment ist alles verrückt, und ich hoffe, dass es nicht noch viel schlimmer wird. Auf persönlicher Ebene bin ich dankbar für alles in meinem Leben, ich habe großes Glück gehabt.
„Ghost Ship“ von Chris Brokaw erscheint auf 12XU.