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Wandeln zwischen den Welten
Ambition gewinnt: Zwei Tage lang tobt das Platzhirsch Festival mit Konzerten, Theateraufführungen, Performances, Workshops und vielem mehr an diesem ersten September-Wochenende über die Bühnen auf und um den Duisburger Dellplatz herum und fasziniert dabei mit dem gleichen schrillen Off-Beat-Faktor, der auch das ganze Jahr über in der „Festivalzentrale“, dem soziokulturellen Zentrum Stapeltor, Trumpf ist. Das absolute Highlight ist trotzdem schnell ausgemacht: In der Pfarrkirche St. Joseph schauen Lucy Kruger & The Lost Boys zurück und spielen ihr heimliches Meisterwerk „Transit Tapes (For Women Who Move Furniture Around)“ erstmalig komplett. Es wird, das sei vorweggenommen, ein in jeder Hinsicht einmaliges Erlebnis mit vielen Gänsehautmomenten.
„Transit Tapes (For Women Who Move Furniture Around)“ ist ein ganz besonderes Werk im wandelbaren Schaffen der aus Südafrika stammenden Musikerin Lucy Kruger. Mit den zwölf Songs des Albums zeichnete sie vor vier Jahren die ersten 18 Monate in ihrer damals neuen Wahlheimat Berlin nach – ihre Suche nach Aufregung und Sicherheit und die damit einhergehende Komplexität, diese Wünsche zusammenzubringen.
Entstanden ist dabei ein nach innen gewandtes Reisetagebuch zwischen ambitioniertem Art-Pop, dahingehauchtem Folk Noir, leiser Psychedelia und zartschmelzendem Noise, das auf den Schultern von Gigantinnen wie Patti Smith und PJ Harvey bisweilen mehr wie ein abstraktes Poesiealbum als das Werk einer Indie-Band wirkt und Krugers Wandeln zwischen den Welten nicht selten eher im Flüsterton als mit klassischer Gesangsstimme dokumentiert.
Obwohl Kruger beim Platzhirsch-Festival-Auftritt von ihrer Band The Boys begleitet wird, ist das knapp 55-minütige Set (eine Zugabe oder sonstige Abstecher zu einem ihrer anderen fünf Alben gibt es nicht) ob seines Hangs zur Langsamkeit wunderbar intim. Daran ändert auch der etwas zu großzügig bemessene „Sicherheitsabstand“ nichts, der eine mehrere Meter breite Lücke zwischen der Band und den Stuhlreihen für das Publikum klaffen lässt.
Die wenigen Ansagen zwischen den Liedern hält Kruger bewusst kurz. Lieber lässt sie sich vom Sog der Melancholie mitreißen oder ins Wolkenreich der effektschwangeren Ambient-Sounds fallen, mit denen Martin Perret am Schlagzeug, Andreas Bonkowski am Bass und ganz besonders die fabelhafte LiúMottes an der Gitarre die perfekte Bühne bereiten für die wohlig düsteren Gedanken zum Verlorensein in allen erdenklichen Facetten, die Kruger mit anmutiger Ernsthaftigkeit vor dem andächtig stillen Publikum ausbreitet.
Die leise Solonummer „Tired“ ist das mit Abstand kürzeste Lied des Abends, offenbart mit der Zeile „I am desperate for a change, but I am desperate to feel safe“ aber doch das zentrale Thema des Albums. Wenn Kruger selbst die Worte fehlen, wie am Ende von „A Stranger’s Chest“, springt die Band für sie ein und sorgt für ein aufbrausendes Intermezzo, während die Protagonistin selbst solange die Rolle der Zuschauerin einnimmt und vor dem Schlagzeug kauert.
Für „A Promised Land“, in dem Kruger ihre ambivalenten Gefühle zum Thema Religion verhandelt, legt sie die Gitarre kurz beiseite und lässt ihre Arme im Stile einer Kate Bush gestenreich das „erzählen“, was sich bei anderen Liedern nur in ihrer expressiven Mimik abspielt. Am Ende sorgt dann „Warm II“ zumindest musikalisch für einen (fast) versöhnlichen Ausklang.
Für viel Optimismus ist hier kein Platz, aber dass das Konzert dennoch zu einem erhebenden, ja erhabenen Erlebnis wird, spricht für die lyrische Kraft dieser herzergreifenden Lieder. Denn auch wenn diese Songs zutiefst persönlich sind: An diesem Abend halten sie das Publikum vom ersten bis zum letzten Ton in Atem.