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„Real Warmth“ heißt das achte Album von Joan Shelley, auf dem sie passend zum Titel klanglich wie inhaltlich ein Zeichen gegen die zunehmende Isolation und soziale Entfremdung moderner Zeiten ein Zeichen setzt. Stattdessen stellt die aus Kentucky stammende Singer/Songwriterin den Wunsch nach zwischenmenschlicher Wärme, nach Verbundenheit, Fürsorge und Mitgefühl in den Mittelpunkt, und das nicht nur beim Songschreiben. Nachdem zuletzt die Auswirkungen der Pandemie und die Geburt ihrer Tochter ihr Leben bestimmt hatten, löste sich Shelley aus der häuslichen Beschaulichkeit und reiste nach Toronto, um dort ihr neues Album mit Produzent Ben Whiteley (The Weather Station) und vielen local heroes der dortigen Szene einzuspielen. Entstanden sind dabei 13 Lieder mit betont menschlicher Note, die getragen von sanfter Schönheit und Klarheit in der zeitlosen Folk-Tradition verwurzelt bleiben, immer wieder aber auch mit Vorstößen auf neues Terrain überraschen können.
Heimlich still und leise – so hat sich Joan Shelley mit den acht ausnahmslos ausgezeichneten Alben, die sie in den letzten rund 15 Jahren veröffentlicht hat, in die erste Liga der Singer/Songwriterinnen gespielt, die Genre Folk auf den Schultern der wegbereitenden Größen der 60er- und 70er-Jahre neues Leben einhauchen. Die Unaufdringlichkeit, mit der die sympathische Musikerin ihren Karriereweg beschritten hat, spiegelt auch die Tatsache wider, dass sie keine großen Ambitionen hatte, als sie mit Mitte 20 ihre ersten Platten veröffentlichte.
„Ich habe keine Ambitionen wie andere Musikerinnen und Musiker. Ich versuche immer nur, ganz natürlich zu sein und auf meine Umgebung und mein Leben zu reagieren“, verrät Shelley im Gespräch mit Gaesteliste.de. „Ich denke, deshalb fühle ich mich auch in der Folk-Welt so wohl – es geht um die Menschen. Wenn die Musik anderen Menschen hilft, dann ist das großartig. Sie scheint bei den Menschen anzukommen, und deshalb gehe ich weiter in die Welt hinaus und gebe Konzerte. Das passiert alles ganz organisch!“
Ihr neues Album „Real Warmth“ ist nun Rückkehr und Aufbruch zugleich. Gleich im ersten Song, „Here In The High And Low“, singt sie „All that came before has to go“, und tatsächlich ist die psychedelisch umspülte Nummer auch klanglich ein Bruch mit ihrer leisen Folk-Vergangenheit.
„Ich glaube, ich bin in diesem Fall eines dieser Klischees, bei denen COVID es extrem langweilig gemacht hat, sehr introvertiert und selbstreflektiert zu sein“, erklärt Shelley. „Meine Reaktion darauf, mein musikalisches Anliegen war es daher, dass es wieder Spaß machen sollte, in Gesellschaft zu sein. Deshalb sollten die Songs nicht nur ungefiltert persönlich sein, sondern es sollte auch ein etwas größeres Gefühl dahinterstecken, von dem ich hoffte, dass es mehr Menschen ansprechen würde. Ich habe während der Entstehung der Platte tatsächlich darüber nachgedacht, wie sich Körper bewegen und was rhythmisch gesehen Spaß machen würde.“
Genau das macht für Shelley einen der größten Unterschiede zwischen ihrer neuen Platte und dem vor drei Jahren veröffentlichten Album „The Spur“ aus. Waren es auf dem Vorgänger vor allem Shelleys künstlerische Entscheidungen, die Akzente setzten – darunter ihre Hinwendung zum Piano und einige unerwartet eingängige Melodien -, steht das neue Album ganz im Zeichen der menschlichen Note des Zusammenspiels der beteiligten Musikerinnen und Musiker.
Für die Aufnahmen zu „Real Warmth“ kehrte Shelley zu der alten Tradition zurück, ihre Platten an immer wieder neuen Orten und mit neuen Mitstreiterinnen und Mitstreitern einzuspielen. So entstand ihr selbstbetiteltes Album von 2017 in Chicago mit Jeff Tweedy auf dem Produzentenstuhl, zwei Jahre später setzte James Elkington „Like The River Loses The Sea“ in Island um, bevor die Umstände sie zwangen, The Spur“ vor drei Jahren in ihrer langjährigen Heimat Kentucky aufzunehmen.
Für „Real Warmth“ reiste Shelley mit ihrem Ehemann, Gitarrist und Musikwissenschafter Nathan Salsburg und ihrer gemeinsamen Tochter Talya Bloom nach Toronto, wo Produzent Ben Whiteley (den meisten vermutlich bekannt als Bassist und rechte Hand von Tamara Lindemann bei The Weather Station) eine Band aus Gleichgesinnten zusammenstellte, die in kurzer Zeit und unter dem Eindruck der ungewissen politischen Weltlage ein Album aufgenommen hat, das eher eine Momentaufnahme als ein akribisch ausgearbeitetes Werk ist und damit ganz auf das Miteinander aller Beteiligten fokussiert ist. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass Shelley dieses Mal ausgerechnet in Toronto gelandet ist?
„Nun, Nathan und ich saßen zusammen und überlegten: ‚Wohin würden wir gerne gehen, wo wir noch nie waren?‘ Er erwähnte Ben und ich wusste sofort: ‚Er ist die perfekte Person, er hat die perfekte Persönlichkeit und er kennt jeden!‘ Das wird wirklich Spaß machen!“
Bei den Sessions im winterlich verschneiten Toronto wurde sie nicht enttäuscht. Matt Kelley, Karen Ng, Philippe Melanson, Ken Whiteley, Doug Paisley und Tamara Lindeman folgten der Einladung von Produzent Whiteley, die Songs aufzunehmen. Das Resultat sind Aufnahmen, die mit beeindruckendem Können und genau der lebendigen Spontaneität begeistern, die Shelley vorschwebte.
Tatsächlich führte der Sprung ins kalte Wasser, die erstmalige Zusammenarbeit mit vielen neuen Gesichtern im Studio, bisweilen zu Ergebnissen, die nicht nur langjährige Fans beim Hören von „Real Warmth“ positiv überraschen dürften, sondern auch für Shelley selbst unerwartet kamen. Ein Beispiel hat sie auch gleich parat: „Bei dem Song ‚Ever Entwine‘ singe ich nur. Ich habe nichts mit der Musik zu tun, daher war das so ein ‚Wow, das passiert wirklich!‘-Moment. ich konnte mich kann auf den Rhythmus meines Gesangs fokussieren. Dieser Song ist praktisch ein Live-Take.“
Angetreten mit dem Wunsch, aus alten Mustern auszubrechen, war es genau diese Art unvorhersehbarer Ergebnisse, die Shelley suchte. „Ich liebe es, anfangs nicht zu wissen, was für ein Sound entsteht, wenn man mit neuen Leuten interagiert“, verrät sie. „Nimm nur mal Phil (Melanson), den Schlagzeuger. Er hat etwas in die Songs eingebracht, auf das ich nie und nimmer von selbst gekommen wäre. Er tickt einfach anders und hat unglaublich hart gearbeitet.“ Weil sich der Drummer im wahrsten Sinne des Wortes im Schweiße seines Angesichts völlig in die Performance warf, war er in einem abgeschotteten Raum untergebracht, um den Rest des Ensembles nicht mit seiner Power klanglich zu überschatten. „Ich hatte noch nie mit einem Schlagzeuger gearbeitet, der bei den Aufnahmen nicht in meinem Sichtfeld war“, verrät Shelley. „Das war ein bisschen außerhalb meiner Komfortzone, weil ich für gewöhnlich so leise spiele.“
Die Gefahr, dass das Album deshalb ein ungewolltes Eigenleben würde entwickeln können, sah Shelley trotzdem nicht. „Das Ganze ist ein Safe Space, weil du das letzte Wort hast und einfach von vorn anfangen kannst, wenn es nicht funktioniert“, sagt sie. „Ich fühle mich von mir unbekannten Musikerinnen und Musikern nicht eingeschüchtert, abgesehen davon, dass ich überzeugt bin, dass Ben in Toronto nur mit Musikerinnen und Musikern von höchstem Niveau zusammenarbeitet – und davon gibt es dort so einige!“
Doch nicht nur Shelley wurde bei den Aufnahmen überrascht. Gleich der erste Song, „Here In The High And Low“, ist eine psychedelisch umspülte Rocknummer, die sicher auch auf dem selbstbetitelten 2018er-Album von The Weather Station gut geklungen hätte. Wer nun allerdings glaubt, dass der Background von Produzent Whiteley dafür sorgte, dass der Song so klingt, liegt voll daneben.
„Das war ein Song, mit dem ich Ben überrascht habe“, verrät Shelley lachend. „Als ich den Text dazu schrieb, konnte ich den Beat fühlen, aber ich wusste nicht, wie ich das auf der Gitarre würde spielen können. Also nahm ich einfach mit einem Bass diese wirklich rockige Bassline auf und schickte sie Ben. Er antwortete: ‚Was für eine Art von Platte wollen wir hier machen, Joan? Was willst du damit erreichen?‘ Ich wusste, dass der treibende Rhythmus den Text am besten transportieren würde, und das war die Grundhaltung, mit der ich an den Song herangegangenen bin. Während der Produktion kamen Ben und Phil dann auf die Idee mit dem heruntergepitchten Drum-Part. Alles war ziemlich durcheinander, aber deshalb hat es auch so viel Spaß gemacht.“
Zwar gibt es auf „Real Warmth“ auch eine ganze Reihe Songs, die stärker in der Tradition Shelleys früherer Platten stehen, aber die kribbelige Energie der ersten Nummer offenbart besonders gut die Dringlichkeit, die diese Songs auch textlich haben. „Innere Unruhe ist ein wirklich guter Antrieb!“, sagt sie und muss lachen. „Ich glaube, dass wirklich schwierige Zeiten bewirken, dass viele Künstlerinnen und Künstler textlich einen großen Satz nach vorn machen, denn ich habe das in letzter Zeit bei vielen Platten beobachtet. Bestimmte Leute wurden plötzlich brillant und all diese Songs sprudelten aus ihnen heraus. Nimm nur mal die Platte von Ryan Davis. Er hat damit einfach das nächste Level erreicht, und ich weiß, dass er ein sehr besorgter Mensch ist. Ich glaube, dass unsere globalen Ängste, unsere Wut und Frustration in Zeiten wie diesen zum Vorschein kommen. Es ist wie in der Vietnam-Ära – da sind so viele gute Platten entstanden!“
Natürlich ist Shelley nicht die Einzige, die ihre Sicht des alltäglichen Wahnsinns derzeit zum Thema ihrer Songs macht, trotzdem macht sie sich um diesen Umstand keine großen Gedanken: „Deswegen mache ich mir in der Tat keine Sorgen, denn der Grund, warum ich überhaupt schreibe, ist, dass ich bereits einen eigenen Blickwinkel habe, wenn du weißt, was ich meine. Ich habe nicht das Verlangen, einen Friedenssong zu schreiben, aber ich bin es leid, wie einige meiner Freundinnen und Freude und einige Familienmitglieder ihre Weltanschauung formulieren. Meine Songs sind gewissermaßen meine Gegenrede. Denn es muss etwas geben, das jenseits der Dualität des roten und des blauen Teams liegt.“
Wenn Shelley das so sagt, stellt sich natürlich die Frage, in was sie überhaupt noch Hoffnung setzt – für sich, und gerade auch für ihre Tochter. „Ich habe das Gefühl, dass die Menschen keine Vision mehr für ein Leben auf der Erde haben“, sagt sie. „Wir scheinen vergessen zu haben, dass unser aller Tun darauf ausgerichtet sein sollte, auf diesem Planeten für lange Zeit zu überleben. Gerade für mich als Elternteil ist das natürlich erschreckend und entmutigend. Gleichzeitig spielt das im Alltag gar keine Rolle, mehr noch, das Gegenteil ist der Fall. Ich kann ein erfülltes Kind haben, das alles hat – das komplette Spektrum menschlicher Erfahrungen auf Stufe elf. Das ist etwas, dass ich erleben möchte und wenn ich wirklich bei ihr bin, dann gibt es keine Probleme.“
Shelleys Tochter war übrigens auch bei den Aufnahmen zu „Real Warmth“ dabei – und ist sogar auf der Platte verewigt. Dass sie selbst die Sessions zu einer Familienangelegenheit machte, könnte man für eine Verlängerung des Community-Gedankens deuten, der sich durch die gesamte Entstehungsphase des neuen Albums zog, doch ehrlich gesagt hatte das Ganze eher praktische Gründe: „Das liegt daran, dass Kinderbetreuung so unglaublich kostspielig ist“, gesteht sie. „Weil wir eh viel unterwegs sind, haben wir unsere Tochter gar nicht erst für den Vorkindergarten angemeldet und uns entschieden, sie mit auf Reisen zu nehmen. An manchen Tagen gab es keine bessere Beschäftigung für sie, als ihr ein paar Puzzles und ein Mikrofon hinzustellen und ihr zu sagen, dass sie auf der Bühne ist! Das war gewissermaßen eine Notwendigkeit für uns, aber wir waren ehrlich gesagt überrascht, wie gut das funktioniert hat.“
Apropos Familie: Nachdem Shelley bislang ihr gesamtes Leben in ihrem Heimatstaat Kentucky verbracht hat, lebt sie mit ihrer Familie seit Neuestem in Michigan. „Kurz gefasst war der Grund, dass wir Kentucky verlassen mussten, dass wir Allergien entwickelt haben“, erklärt sie. „Unser Haus hatte Schimmelbefall und das hat uns alle krank gemacht, und auch auf die Luft im Ohio River Valley waren wir allergisch. Sobald wir dann in Michigan angekommen sind, war alles wieder in Ordnung. Es gab noch andere Gründe, aber das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das alles war herzzerreißend. Es ist nicht unbedingt Heimweh, aber ich weiß, dass wir uns hier immer ein wenig fühlen werden, als seien wir nicht zu Hause, aber meine Hoffnung ist, dass sich das zumindest für meine Tochter ändert.“
Niedergelassen haben sich Shelley und die Ihren auf der unteren Halbinsel in Michigan, eine Gegend, die sie als gut gehütetes Geheimnis bezeichnet und die ihr zumindest ein ähnlich naturbelassenes Umfeld bietet wie zuvor in Kentucky. Eines der Highlights auf dem neuen Album, eine zart countryeske Nummer, zu der Doug Paisley zu Herzen gehenden Harmoniegesang beisteuert, dreht sich um den Umzug. „Der Song ‚Everybody‘ handelt davon, wie wir zunächst von unserer Farm in Kentucky in die Stadt nach Louisville gezogen sind“, erläutert Shelley. „Dort die Abgase einzuatmen und die ganze Zeit Strommasten und die Lichter der Stadt zu sehen, das war nichts für uns. Wir sind Luchse und Coyoten gewohnt! Jetzt in Michigan wohnen wir in einem grünen Nest auf einem Hügel und ich kann den See sehen.“
Auch wenn sie für gewöhnlich keine großen Pläne schmiedet, wenn es um ihre Musik geht, weiß sie doch genau, was die Veröffentlichung von „Real Warmth“ bewirken soll. „Jetzt, wo wir unser Kind überall mit hinnehmen können, möchte ich einfach wieder die Gegenden der Welt sehen, die ich liebe und die ich zuvor bereist habe“, sagt sie abschließend. „Ich möchte wieder mit den Freundinnen und Freunden in Kontakt treten, die ich an jedem Ort habe, und meiner Tochter die Welt zeigen. Das ist das Beste, was ich mir wünschen kann, und ich bin froh, dass ich die Gelegenheit dazu habe. Es ist großartig, Musikerin zu sein und nicht nur reisen zu können, sondern auch noch an Orten zu sein, wo es die Leute zu schätzen wissen, dass man dort ist.“
„Real Warmth“ von Joan Shelley erscheint auf No Quarter/Cargo.