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Als die estonische Musikerin Iiris Vesik vom heimatlichen Tallin nach London zog, um dort Popmusik zu studieren, hatte sie bereits eine Karriere als Solo-Künstlerin und ein Album namens „The Magic Gift Box“ vorzuweisen, das 2012 veröffentlicht wurde. Als sie dann in London beim Studium auf ihre Kollegen Max Doohan und Sam „Richie“ Richards traf – die wie sie selbst – als Produzenten in Sachen EDM und Electronica im Allgemeinen tätig waren, entwickelte das Trio die Idee, die gewohnten elektronischen Aktivitäten mit einem songorientierten Ansatz zu verbinden und diese folgerichtig um Gesang, Lyrics und organische musikalische Elemente zu erweitern. Das war dann die Geburtsstunde des Trio-Projektes Night Tapes.
Mit ihrem Mix aus Dreampop, TripHop, Ambient-Psychedelia, Club-Disco, Shoegaze und E-Pop-Elementen stießen Night Tapes dann schon mit ihren EPs „Dream Forever“, „Download Spirit“ und „Perfect Kindness“ musikalisch Portale zu alternativen Dimensionen, Eskapismus und Utopia auf – bevor sie sich auf dem letztjährigen Reeperbahn Festival auch als Live-Faszinosum empfahlen. Nun liegt das Debüt-Album „portals//polarities“ vor, mit dem Iiris Vesik, Max Doohan und Sam „Richie“ Richards die besagten musikalischen Portale dann nochmals weiter aufstoßen – dieses Mal dann auch in inhaltlicher Hinsicht. Auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival präsentierten sich die Night Tapes dann erneut mit zwei hinreißenden Shows. Nach der zweiten Show im Hamburger Knust standen uns Iiris und Sam dann noch für ein Interview zur Verfügung, während Max Doohan das umfangreiche Equipment der Band betreute und einpackte.
Normalerweise wäre die erste Frage gewesen, wo denn – im Vergleich zu den Live-Shows – die Gitarren im Soundmix des Albums zu suchen wären. Wenn man allerdings bedenkt, wie die Night Tapes arbeiten – nämlich „all over the place“, nachts, an ungewöhnlichen, hellhörigen Locations fernab jeglicher Studio-Stätten und mit spontanen Jam-Sessions, aus denen dann die mit analogen (Tapes eben) Field Recordings verzierten Songs von den drei gelernten Produzenten herausgefiltert werden – erscheint diese Frage obsolet.
„Also mit den Gitarren ist das so, dass es einige Stücke gibt, die mehr Gitarren enthalten, als man denkt“, meint Richie, „sie klingen nur nicht wie Gitarren. Wir verbringen ja viel Zeit in den elektronischen Klangwelten – und wenn es dann um die Gitarren geht, versuchen wir, die unterschiedlichen Klang-Texturen zusammenzubringen. Iiris hat da allerlei Effektgeräte auf der Bühne – und wenn Max Gitarre spielt, klingt das noch mehr nach Ambient. Wir wechseln uns ja an den Instrumenten ab und da bringt jeder seine Eigenarten ein.“
Das sollte ja kein Vorwurf sein mit den Gitarren! Es ging nur um die Sound-Attitüde. „Was wir ja versuchen, ist, Shoegaze mit elektronischer Dance-Musik zu verquicken“, führt Iiris aus, „daraus wird dann schnell ein ganz spezielles Biest. Die Gitarren sind auf dem Album deswegen auch nicht so laut.“
Mal was anderes: Die Night Tapes vermitteln auf der Bühne – nicht zuletzt aufgrund von Iiris enigmatischer Bühnenpräsenz – eine Art von traumähnlicher Energie. Wie fühlen sich die Night Tapes denn auf der Bühne? „Also je länger eine Show ist, desto mehr kann ich mich da performerisch hineinsteigern“, führt Iiris aus, „manchmal passiert dann die Magie und manchmal nicht. Ich bin immer glücklich, wenn auf der Bühne ein natürliches High zu spüren ist.“
Ist das denn nicht steuerbar? „Also unsere Live-Shows enthalten immer improvisatorische Elemente“, überlegt Sam, „wir wissen auch nicht immer vorher, was passieren wird. Es ist aber niemals exakt gleich. Wenn man zu einheitlich agiert, dann wird das auch zu vorhersehbar.“ „Ja – ich will auch frei sein auf der Bühne“, ergänzt Iiris, „da kann alles passieren. Das macht ja Live-Shows so interessant. Aber das kann auch schrecklich schiefgehen. Ich habe mal versucht, eine Live-Meditation zu machen – und die ganze Show ist gestorben. Ich habe den Gig getötet!“
Was treibt Iiris als Performerin an? Ist sie eine Tänzerin? „Ja, ich mag es zu singen und ich mag es zu tanzen. Ich denke, wir sind doch alle Tänzer, oder? Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das besagt: ‚Wenn du gehen kannst, kannst du auch tanzen und wenn du sprechen kannst, dann kannst du auch singen‘. Die sind schon sehr weise, die Afrikaner!“
„Gesang ist sozusagen mein erstes Instrument“, berichtet Iiris, „ich singe schon, seit ich sechs bin. Ich bin auch ausgebildet und nehme das Singen schon sehr ernst. Deshalb macht das so viel Spaß. Singen ist für mich so natürlich, wie es für Richie natürlich ist, Gitarre zu spielen, und für Max das Drum-Spiel. Ich habe aber erst angefangen, Gitarre zu spielen, als ich 25 war.“
Was hat es denn mit dem eigenartigen Titel des Debüt-Albums „portals//polarities“ auf sich? „Da gibt es auch noch eine verborgene Parallele im Titel“, führt Iiris aus, „ich bin sehr an Wellenbewegungen interessiert. Ich versuche zugleich zu verstehen, wie ich ein wirklich schönes Leben haben kann. Wir versuchen ja alle, herauszufinden, wie man frei sein und ein schönes Leben haben kann. Letztes Jahr hatte ich mit Abhängigkeiten zu kämpfen. Hauptsächlich einer Abhängigkeit von der Intensität. Schreie sind dann eine Möglichkeit, Intensität zu erzeugen. Wir haben im letzten Jahr unsere erste Tour in den USA gespielt. Wir sind dabei zugleich zur selben Zeit durch extreme Höhen und extreme Tiefen gegangen. Diese Polaritäten waren sehr interessant, denn wir konnten uns entweder auf die Höhen oder die Tiefen konzentrieren. Für mich ergab sich daraus das Verständnis für meinen Fokus. Das war dann mein Portal zu dieser Erkenntnis. Es ergibt sich dann die Frage, auf was man sich konzentriert. Ich liebe dieses Buch ‚William Blake Versus The World‘ von John Higgs. Es beschäftigt sich mit einer auf sich selbst bezogenen Wahrnehmung der Realität. Ich mag diese Idee, weil das auch so eine Fokus-Sache ist. Alle Dinge, die man in eine solche Realität mit einbezieht, ergeben schließlich die Welt, in der man lebt.“
Das hört sich ja schon ziemlich esoterisch an. „Natürlich“, meint Iiris, „ich liebe die materielle Welt, aber ich liebe auch die spirituelle Welt. Ich mag die Welt der Mathematik als Idee – und die Physik.“ „Heisenberg“, wirft Richie da ein. „Haberland“, korrigiert Iiris, „und Carlo Rovelli – der hat wunderbare Artikel über die Quantenphysik geschrieben.“ „Ja, wir mögen es, die Welt der Physik mit der Welt der Poesie zu verbinden“, ergänzt Richie, „das ist sehr schön. Das hat dann auch mit Portalen und Polaritäten zu tun.“
„Macro und Mikro – da ist eine ganz andere Welt, die vor uns verborgen ist“, überlegt Iiris, „die Frage ist: Was ist der verbindende Bereich unter all den anderen Reichen? So wie ich die Sache sehe, gibt es nicht einen Bereich, sondern multiple Bereiche. Die Antwort auf meine Frage, was der verbindende Bereich ist, ist ‚beide und mehr‘. Man kann das Leben nicht auf eine Ebene verdichten. Also gehen wir durch Portale in die Welt der Höhen und Tiefen und der Vibrationen dazwischen.“
Hm – so selbstverständlich Iiris und Richie diese philosophischen Überlegungen einbeziehen, so anschaulich erklärt das den musikalischen Ansatz des Trios. „Ja, der musikalische Ansatz ist ja auch, verschiedene Genres einzubeziehen“, bestätigt Richie diese Annahme, „das ist dann sozusagen ein allumfassendes Konzept.“ Denken die Night Tapes denn überhaupt in Kategorien wie „Stile“ oder „Genres“? „Nein, wir denken in Vibes“, führt Iiris aus, „Vibrationen sind uns schon sehr wichtig.“
„Aufgrund der technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, sind die Produktionswege ja nicht mehr so starr“, wirft Richie ein, „Du kannst dich an einen Rechner setzen und machen, was du willst. Anstatt also für ein bestimmtes Genre zu schreiben, schreibst du darüber, wie sich der Moment anfühlt. Anstatt also zu beschließen, etwa einen TripHop-Song zu schreiben, erlaubst du dem Prozess, dich vielleicht dorthin zu führen.“ „Ja, man muss dem Song erlauben, sich zu offenbaren“, bestätigt Iiris, „anstatt zu versuchen, einen Song zu erzwingen, von dem du denkst, wohin er gehen sollte. Max sagte einmal: ‚Die Musik spielt sowieso immer – du musst dich nur einlinken.“
Worauf fokussieren sich die Night Tapes denn, wenn sie an ihrer Musik arbeiten? „Wahrhaftigkeit ist schon ein Axiom“, wirft Iiris ein, „wir fragen uns: ‚Was ist die Wahrheit zu diesem spezifischen Moment?‘ Denn was wahr ist, verändert sich ja manchmal – die emotionale Wahrheit meine ich damit. Wir versuchen also herauszufinden, was die gegenwärtige Wahrheit ist.“
Wieso verändert sich denn die Wahrheit? Ist es nicht so, dass sich tatsächlich eher die Wahrnehmung der Wahrheit ändert? „Wenn es verschiedene Realitäten gibt, warum sollte sich dann die Wahrheit nicht verändern?“ antwortet Iiris mit einiger Bestimmtheit – muss dann aber selber laut lachen. „Na ja, was dir zu einem Moment als wahrhaftig erscheint, passt sich mit der Zeit halt den Gegebenheiten an“, meint Richie etwas ernsthafter, „das ist es, was wir damit meinen, dass wir versuchen, den Vibe des Moments einzufangen. Ein kleiner Teil des Prozesses besteht darin, einen Teil deines eigenen Charakters da mit einzubauen und den Moment der Wahrheit zu diesem Zeitpunkt einzufangen.“
„Das ist, wie einen Schnappschuss aufzunehmen“, erklärt Iiris, „und da wir uns an so vielen verschiedenen Orten befanden und so viele verschiedene Gefühle gefühlt haben, haben wir eben verschiedene Schnappschüsse aufgenommen. Was wir versuchen, ist einen Faden zu finden, der alles zusammenhält.“ „Ja – so etwas wie einen Bindfaden“, elaboriert Richie, „und das ist das Schwierigste an der ganzen Sache.“
Das kann man aber nicht erzwingen, oder? „Nein – das ist, als würde man einen Baum pflanzen und dann Dinge drumherum bauen, damit er in eine bestimmte Richtung wächst“, erklärt Iiris, „wenn man das tut, ist der Baum deformiert. Man muss ihn in die Richtung wachsen lassen, in die er wachsen will.“
Was ist dann die größte Herausforderung als Musiker für Night Tapes, wenn man all dies in Betracht zieht? „Das ist vermutlich genau das“, meint Richie, „alles in Betracht zu ziehen. Wenn man eine solche Erkundung über verschiedene Genres und Bereiche hinweg unternimmt, muss man unbedingt verstehen, was für einen selbst Zuhause ist und wie die Klänge sind. Man muss sich in dem wahrhaftigsten Aspekt dessen finden, was man tut. Zum Glück ist Iiris‘ Stimme absolut einzigartig – das hilft sehr. Das Verständnis davon, was dabei unsere Aufgabe ist, ist dabei wichtig – denn ansonsten wird alles zur bloßen Referenz. Das ist die größte Herausforderung.“
„Ja, das würde ich auch sagen“, ergänzt Iiris, „manchmal sieht man das gar nicht. Dann muss man einen Schritt zurück machen und sich einen Überblick verschaffen. Das Schwierige ist dann zu erkennen, an welchem Punkt des Prozesses man sich gerade befindet. Ist man noch im kreativen Prozess – oder editiert man bereits? Und man muss erkennen, ob das, was man dann tut, gut für das Songwriting ist. Und man kann ja nicht immer in seinem Haus sitzen und Musik machen. Man braucht ja etwas, über das man schreiben kann – also muss man raus in die Welt gehen und etwas erleben.“
Das tun die Night Tapes dann auch – und gehen jetzt erneut auf eine große US-Tour. Nur selten bekommt man den philosophischen Unterbau eines Musikprojektes so anschaulich, vielschichtig und detailreich dargelegt. Auf faszinierende Weise scheint aber dieser Mix aus Philosophie, Physik, Poesie, Phantasie, Literatur, Mathematik und Spiritualität genau das widerzuspiegeln, was die Night Tapes mit ihrer Musik zum Ausdruck bringen – sowohl im Studio als auch auf der Bühne.
„portals//polarities“ von Night Tapes erscheint auf Nettwerk Music Group.




