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Steve Gunn macht keine Musik, die laut und schrill um Aufmerksamkeit buhlt. Stattdessen hat sich der in New York City lebende Singer/Songwriter in den letzten zwei Jahrzehnten mit lyrischem Storytelling und brillantem Gitarrenspiel an der Schnittstelle von Folk, Psychedelia und in Richtung Jazz deutender Improvisation eine eigene Welt erschaffen. Nachdem er zuletzt auf Alben wie seinem heimlichen Meisterwerk „The Unseen In Between“ von 2019 oder „Other You“ (2021) bewusst im Bandkontext unterwegs war, widmet er sich auf seinem famosen neuen Album „Daylight Daylight“ der kunstvollen Reduktion und lässt zwischen Stille und Sanftheit viel Raum für grüblerische Reflexion. Gaesteliste.de hatte die Gelegenheit, mit dem auch abseits von Bühne und Studio betont unaufgeregt wirkenden Musiker zu sprechen.
„Musik ist für mich wie ein Anker in meinem Leben, in guten wie in schlechten Zeiten“, sagt Steve Gunn. „Als Hörer kehre ich oft zu der immer gleichen Musik zurück, als sei sie eine Art vertrauter Freund. Das Leben und Erbe meiner Helden ist ein ständiger Antrieb und ein fortwährender Quell der Inspiration für mich.“
Einst war der sympathische Amerikaner Gitarrist in Kurt Viles Violators und stand Folkie Meg Baird zu Seite, er kollaborierte mit Kim Gordon, Ryley Walker oder David Moore und war zuletzt neben Zoh Amba, Shazad Isamily und Jim White in der Jazz-affinen Supergroup Beings aktiv. Seine Begeisterung für die Musik reicht aber natürlich noch viel weiter zurück als nur bis nur Veröffentlichung seines ersten Soloalbums im Jahre 2007. Fragt man den in Philadelphia aufgewachsenen Gitarrenvirtuosen nach seinen frühesten Erinnerungen, in denen Musik echten Eindruck auf ihn gemacht hat, erinnert er sich an Autofahrten mit seinen Eltern, alte Soul-Songs und die Wucht, die Emotionen der Stimmen der Sängerinnen und Sänger.
Er selbst glänzt auf seinen aktuellen Veröffentlichungen allerdings genau mit dem Gegenteil und zieht das Publikum mit ruhigen, ja, fast geradezu meditativen Klängen in seinen Bann. Das gilt für sein just veröffentlichtes Singer/Songwriter-Album „Daylight Daylight“, noch mehr allerdings für seine vor drei Monaten erschienene erste Instrumentalplatte „Music For Writers“, auf der sanfte Gitarren, dezente Synthesizer, Field Recordings und die Atmosphäre der Räume, in denen die Aufnahmen entstanden, auf ganz besondere Art zusammenwirken.
„‚Music For Writers‘ spiegelt einen wichtigen Aspekt meiner Arbeit wider – einen, bei dem es weniger um Songs als vielmehr um Atmosphäre und das Dazwischen geht“, erklärt Gunn. „Ich hoffe, dass es etwas Subtiles, aber Beständiges bietet: einen Ort zum Nachdenken, einen Begleiter für die Arbeit, zum Tagträumen, für Trauer, Glück, Traurigkeit oder einfach einen Ort zum Ausruhen.“
Die Instrumentals nahmen Ende des letzten Jahres während Gunns Aufenthalt in Lettland für die Pedvale Art Residency in der 1500-Seelen-Gemeinde Sabile erste Formen an und wurden dort, in Berlin und in Brooklyn eingespielt. Entstanden ist dabei eine Platte, in der Ideen, Bilder und Gefühle bisweilen fast in Zeitlupe an den Hörerinnen und Hören vorbeiziehen. Inspiriert von ziellosen Spaziergängen, dem Klang von Vogelstimmen oder den Geräuschen von in der Ferne rumorenden Maschinen, durfte die Musik frei fließen.
„Bei dieser Instrumentalplatte habe ich viel über Schriftsteller nachgedacht, insbesondere über einige Menschen, die ich sehr respektiere, die wirklich hart arbeiten und viel Mühe in das Erschaffen einer Geschichte stecken“, lässt Gunn wissen. „Ich finde, das ist eine sehr großzügige Vorgehensweise – und sehr wohlwollend. Ich bin der Meinung, dass Kunst einen wohlwollenden Aspekt haben muss.“
Tatsächlich spiegeln sich viele dieser Ideen und Gedanken nicht nur in „Music For Writers“, sondern auch in „Daylight Daylight“ wider, entstanden die Songs doch praktisch zeitgleich. Das vor wenigen Tagen auf dem amerikanischen Connaisseur-Label No Quarter erschienene Album markiert für Gunn eine Art Neubeginn, nachdem er zwischen 2016 und 2021 drei viel beachtete Alben bei Matador Records veröffentlicht hatte und mit der eingängigsten Variante seines zurückhaltenden Sounds zwischen Indie, Folk und Rock viele neue Fans hinzugewonnen hatte.
Mit „Daylight Daylight“ wollte er diese Phase allerdings bewusst hinter sich lassen. „Ich hatte das Gefühl, das ich das volle Potenzial dessen, was ich mit einer kompletten Band im Rücken und auf einem größeren Label erreichen konnte, ausgeschöpft hatte“, gesteht er. „Ich wollte zum Kern der Dinge zurückkehren – nur ich und die Gitarre.“
Bei den Aufnahmen wollte Gunn etwas von der Intimität der Solo-Performances einfangen, mit denen er seit Jahren auch in Europa immer wieder auf der Bühne fasziniert. Anstatt wie bei früheren Alben eine Band zusammenzustellen, um die Songs auszuarbeiten, stand ihm dieses Mal nur ein einziger Mitstreiter, man könnte auch sagen: Seelenverwandter, zu Seite: der in Chicago heimische Brite James Elkington. Der hat in den letzten Jahren nicht nur Platten von Jeff Tweedy oder Joan Shelley produziert, sondern ist seit mehr als einem Jahrzehnt auch ein treuer Weggefährte und Kollaborateur für Gunn.
Angetreten mit dem Vorsatz, schnell zu arbeiten und möglichst wenig nachzubearbeiten, bildeten Gunns solistische Demo-Aufnahmen die Grundlage für die Zusammenarbeit, doch auch wenn klangliche Sparsamkeit das oberste Gebot blieb: Ganz so spartanisch wie bei seinen Solo-Konzerten blieben die Aufnahmen für „Daylight Daylight“ am Ende nicht, denn in Elkingtons Nada Studios wurden zaghaft weitere Elemente hinzugefügt – ein Synthesizer hier, ein Gitarren-Overdub dort oder ein wenig Percussion.
Besonders reizvoll sind allerdings die Nick-Drake-würdigen dezenten orchestralen Farbtupfer mit kinoreifem Flair, die Macie Stewart (Violine und Viola), Ben Whiteley (Cello), Nick Macri (Kontrabass) und Hunter Diamond (Holzblasinstrumente) Wirklichkeit werden lassen. Manche dieser herrlich stimmungsvollen Arrangements heckten Gunn und Elkington zusammen aus, für andere Songs hatte Elkington dagegen völlig freie Hand.
Wie schon auf dem Instrumentalalbum sind dabei Songs entstanden, die eine schwer in Worte zu fassende jenseitige Qualität haben. Es sind Songs, die imstande sind, die Hörerinnen und Hörer Zeit und Raum vergessen zu lassen und sich ganz in den zarten und doch still fesselnden Klängen zu verlieren. Ein glücklicher Zufall oder doch ein Ziel, auf das Gunn hinarbeitet? „Es ist eine Kombination aus beidem“, sagt er. „Ich denke, diese Sensibilität in der Musik zum Ausdruck zu bringen, repräsentiert mich und mein Tun. Das geschieht ganz natürlich, ist aber gleichzeitig auch Absicht. Ich habe eine interessante Identität als Songwriter, weil ich nicht nur jemand sein möchte, der Songs spielt. Ich liebe das, aber ich möchte innerhalb dieser Struktur mehr Raum schaffen und ein Gefühl von Jenseitigkeit hervorrufen.“
Auch wenn diese Qualität von Gunns Musik auf „Daylight Daylight“ ob der Besinnung auf das klanglich Wesentliche besonders in den Fokus rückt: Neu ist das für ihn natürlich nur bedingt. „Schon als Teenager habe ich mich zu dieser Art von Musik hingezogen gefühlt, und die Entdeckung dieser Jenseitigkeit war rückblickend gesehen ein Portal für mich. Die Klänge, die ich hörte, erweiterten meine Denkweise, meine Welt und mein Verständnis von musikalischem Ausdruck. Im Alter von etwa 18 bis 21, 22 Jahren entdeckte ich eine Menge Musik, die sich genre- und grenzenlos anfühlte. Ich entdeckte diese immense Freiheit, und ich habe das Gefühl, dass ich daran immer noch festhalte. Sie ist der Kern meiner Arbeit.”
Nicht zuletzt deshalb machen Gesang und Texte den größten Unterschied zwischen „Music For Writers“ und „Daylight Daylight“ aus. So schlägt Gunn beim Titelsong den Bogen von Erinnerungsfetzen an eigene Erlebnisse – ein Bad in einem eiskalten See, einen aufziehenden Sturm, einen tagelangen Stromausfall und den Unterschlupf bei einem Freund – zu einer größeren Gefahr und den Schutz davor, während er in „Morning On K Road“ die letzte Begegnung mit einem alten, kurz darauf verstorbenen Freund in Neuseeland poetisch verschleiert Revue passieren lässt oder sich bei dem von den Streichern getragenen „Nearly There“ im Dunstkreis von Repetition und Meditation in eine Welt zwischen Traum und Trance begibt.
Trotz eines oft autobiografischen Kerns der Texte hat Gunn beim Schreiben stets auch seine Hörerinnen und Hörer im Sinn, wenn er versucht, spielerisch das Spannungsfeld von Emotionen und Deskription, Hoffnung und Verzweiflung auszuloten. „Auch wenn ich über mich selbst singe, denke ich an andere“, erklärt er. „Ich versuche, mein Ego aus der Musik herauszunehmen und den Menschen zu ermöglichen, die Songs auf ihre eigene Weise zu interpretieren. Ich weiß, das klingt sehr klischeehaft, aber ich habe das Gefühl, dass es ein gewisses Wohlwollen geben muss, dass es ein für alle Menschen inklusives Element geben sollte, damit sich alle damit identifizieren können.“
Schließlich gilt die Binsenweisheit, dass Applaus das Brot des Künstlers ist, auch für Gunn – oder wie er es selbst abschließend ausdrückt: „Ich glaube, dass es mich wirklich am meisten motiviert, wenn Menschen zu mir kommen und sagen: ‚Ich habe mich in diesem Song wiedergefunden.‘ Das ist für mich die schönste Rückmeldung, die ich bekommen kann.“
„Daylight Daylight“ von Steve Gunn erscheint auf No Quarter/Cargo.




