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„‚Let It Hiss‘ entstand, als wir aufhörten, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, und endlich darauf hörten, was tatsächlich vor sich ging“, sagt Drummer Andrew Barr über das neue Album der Barr Brothers, und tatsächlich ist das inzwischen vierte Album der in Montreal heimischen Americana-Helden auch das Dokument einer Transformation und die Geschichte von zwei Brüdern, die ihr Leben lang gemeinsam Musik gemacht haben, vor den Aufnahmen zu dieser neuen LP aber erst wieder zueinander finden mussten. Im November sind sie als Support für Mumford & Sons in Berlin zu sehen.
Inzwischen sind The Barr Brothers längst ein Fixstern am Roots-Music-Himmel. Seit Langem im kanadischen Montreal daheim, aber mit amerikanischen Wurzeln in Providence, Rhode Island, fielen die Brüder Brad und Andrew gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen und Mistreitern schon früh durch ihre scheuklappenlose Herangehensweise und ihre Liebe zu Folk, Blues und Weltmusik genauso auf wie ihren Hang zu ungewöhnlicher Instrumentierung. Eine Pedal Steel gehörte nämlich oft genauso zum Inventar wie eine Harfe.
Nach ihrem vor rund 15 Jahren erschienenen selbstbetitelten Erstling war es 2014 der Nachfolger „Sleeping Operator“, der den Barr Brothers eine Nominierung für den wichtigsten kanadischen Musikpreis JUNO und ausgiebige Tourneen auch in Europa bescherte. Auch „Queen Of The Breakers“ von 2017 führte die Band gleich mehrfach über den Atlantik, bevor Soloaktivitäten in den Mittelpunkt rückten – nicht zuletzt auch, weil es menschlich kriselte. „Let It Hiss“ verwandelt diese Spannungen nun in Klänge: Den Schmerz und die Versöhnung zweier Brüder, die ihren Rhythmus verlieren mussten, um ihn wiederzufinden.
Eingespielt mit Unterstützung einiger „famous friends“ wie Jim James von My Morning Jacket und Elizabeth Powell von Land Of Talk, hört man dem nun erscheinenden vierten Album seine komplizierte Entstehungsgeschichte allerdings nur bedingt an, wenn die Band zwischen ihrer ureigenen Version eines progressiven Folk-Sounds und einem Blick über den Tellerrand Liebe, Vertrauen und Brüderlichkeit unter die Lupe nimmt. Gaesteliste.de sprach mit Sänger und Gitarrist Brad Barr über Musik als Gefühlsbarometer, die Magie der Unvollkommenheit und bescheidene Ziele.
GL.de: Brad, zum Warmwerden eine allgemeine Frage zu Beginn: Welche Rolle spielt die Musik heute in deinem Leben?
Brad Barr: Das ist eine großartige Frage für den Anfang, ich liebe diese Frage! Für mich bedeutet Musik vieles. Sie ist ein endloser Quell der Sinnhaftigkeit, denn musikalisch gibt es immer Raum für Wachstum, sei es in Bezug auf meine Fähigkeiten an der Gitarre, meine Songwriting-Skills, mein Können als Texter oder mein Verständnis von Harmonie. Ich werde Musik niemals vollständig verstehen, es wird immer etwas geben, das ich noch lernen kann. Sie ist aber auch ein großartiger Gradmesser dafür, wie es mir persönlich geht. Vor allem Konzerte sind ein echter Maßstab dafür, wie gut es mir spirituell geht – ob ich mich auf die Bühne stellen und ein Konzert geben kann und dann wieder in Frieden gehen kann. Das ist eine großartige Möglichkeit, anhand meiner Beziehung zur Musik und zum Performen einzuschätzen, wo ich gerade stehe.
GL.de: Wenn du sagst, dass Musik für dich ein Barometer ist: Wie passt es dann dazu, dass du sieben Jahre lang kein Album mit den Barr Brothers aufgenommen hast?
Brad Barr: Nun, wir haben unser letztes Album 2017 aufgenommen, und das war in der Tat ein guter Gradmesser für meine spirituelle Fitness, würde ich sagen, denn ich war spirituell alles andere als fit. Als die Pandemie ausbrach, hatte ich kein besonders gutes Verhältnis zu meiner Kreativität und zu mir selbst, und auch meine persönlichen Beziehungen waren nicht in Ordnung. Ich war irgendwie in einem Tief. Ich habe viele Antworten auf diese Frage vorbereitet, weil ich wusste, dass sie in Interviews wie diesem kommen würden, aber da du mir eine so aufrichtige erste Frage gestellt hast, habe ich das Gefühl, dass ich ehrlich sein kann. Ich musste mich spirituell neu orientieren, um dieses Album fertigzustellen. Das macht dieses Album für mich noch bedeutungsvoller, weil ich sehe, dass es nicht möglich gewesen wäre, wenn ich nicht an mir selbst gearbeitet hätte. Ich musste verstehen, was ich tat, wie ich mich verhielt, wie ich mit Musik und den Menschen um mich herum umging, und ich musste Maßnahmen ergreifen, um mein Privatleben ins Gleichgewicht zu bringen, um dieses Album fertigzustellen.
GL.de: Wann und wie hast du dann entschieden, dass du bereit warst, diese neue Platte anzugehen?
Brad Barr: Das war die leichteste Übung. Als sich für mich persönlich und spirituell alles zu fügen begann, und damit meine ich meine Fähigkeit, würdevoll mit der Welt zu interagieren, gab es keine Entscheidung mehr zu treffen, und die Musik begann zu entstehen. Ich würde sagen, etwa die Hälfte der Songs hatte ich bereits vor der Pandemie begonnen, zumindest die Idee, die Keime waren da, aber es war sehr schwer, in meinem Zustand des Chaos und der Unsicherheit etwas zu Ende zu bringen. Als sich die Dinge für mich persönlich wieder zu ordnen begannen, gab es wirklich keine Diskussion mehr. Es ging nur noch um die Entscheidung, ob in unserem Studio aufnehmen oder woanders hingehen und wen wir als Toningenieur nehmen wollen. Die Songs entstanden sehr schnell, ebenso wie die technische Umsetzung. Wir haben einfach aufgehört, alles kontrollieren zu wollen, und sind einfach alles in unserem eigenen Studio angegangen, obwohl wir zuvor immer wieder bezweifelt hatten, dass unser eigener Raum gut genug wäre, da wir keine fantastischen Toningenieure sind. Aber wir haben beschlossen, die Aufnahmen einfach so zu lassen, wie sie sind, und den Klang so zu belassen, wie er in unserem Raum klingt, und alle Fehler einfach drin zu lassen. Das ist die Idee, aus der der Titel „Let It Hiss“ entstanden ist. Es ging darum, einfach wir selbst zu sein und unser Leben nicht noch komplizierter zu machen, als es ohnehin schon ist, schließlich sind wir Menschen, die Kinder und Familie haben und versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
GL.de: Da du gesagt hast, dass du einige der Songs schon vor der Pandemie begonnen hast: Wie hast du dir das Album ursprünglich vorgestellt, und wie weit ist das fertige Produkt nun von dieser Vision entfernt?
Brad Barr: Nun, es war wirklich schwer, eine Vision dafür zu entwickeln. Unser Ethos ist es, einfach anzufangen zu spielen, und was dabei herauskommt, bestimmt das Ergebnis. Es beruht darauf, dass wir alle Überlegungen darüber, was für eine Platte wir machen wollen, fahren lassen. Ich wollte einfach, dass es sich mit Andrew zusammen gut anfühlt. Das ist wirklich alles, und genau das ist auch passiert, worüber ich sehr froh bin.
GL.de: Das Loslassen, das du beschrieben hast, ist in der Tat der heimliche Trumpf der Platte, denn oft entsteht die wahre Magie in der Musik ja erst, wenn man aufhört, sich Sorgen zu machen, und die Unvollkommenheiten akzeptiert.
Brad Barr: Ich freue mich sehr, dass du das sagst, und ich hoffe, dass die Leute das in diesem Album hören – und ich glaube, es ist unmöglich, das nicht zu hören. Ich denke, wir haben ganz bewusst auf Autokorrektur, Autotuning und Beatmapping verzichtet, weil wir wussten, dass das heutzutage vielleicht unsere einzige Chance ist, uns von anderen abzuheben. Der Hauptunterschied war diesmal, dass wir einen Großteil der Aufnahmen selbst gemacht haben. Das war nicht wirklich schwierig, denn ich habe das Gefühl, dass wir seit Jahren darauf hingearbeitet haben, unser Studio zu einem Ort zu machen, an dem wir uns wohlfühlen und der technisch zumindest den Anforderungen für die Produktion eines Albums gerecht wird. Daher fühlte sich die Aufnahme ziemlich natürlich an. Ich glaube, wir haben es immer gemocht, in Bands zu spielen, aber wir haben auch immer erkannt, dass wir beide eine besondere Art der Kommunikation haben, wenn wir an einem Song arbeiten, und dieses Mal war es für Andrew und mich wirklich schön, einfach als Duo an einem Album zu arbeiten.
GL.de: Oft klingen Platten, die nach einer solch langen Veröffentlichungspause entstehen, komplett anders als ihre Vorgänger. Ihr dagegen seid euch tatsächlich treu geblieben. War das Absicht oder passiert das einfach, wenn du mit Andrew zusammenarbeitest?
Brad Barr: Ich denke, es ist eher Letzteres. Es ist wichtig für uns, nicht zu sehr Wert darauf zu legen, wie eine Platte der Barr Brothers klingt oder nicht klingt. Du bist tatsächlich der Erste, der sich dazu geäußert hat, ob sich das neue Album wie eine Platte der Barr Brothers anhört oder nicht, und dass du sagst, dass es immer noch so ist, bedeutet für mich, dass Andrew und ich auf dieser Platte endlich wieder wir selbst sein konnten.
GL.de: Natürlich gibt es auch einige Songs, die durchaus überraschen können, wie „Run Right Into It „, „Sleeps With The Covers On“ oder „Upsetter“, die dann doch spürbar anders klingen als eure größten Hits der Vergangenheit wie „Even The Darkness Has Arms“ oder „Beggar In The Morning“. Wie kam es dazu?
Brad Barr: Nun, wir hatten bereits eine ganze Karriere hinter uns, bevor wir nach Montreal gezogen sind und die Barr Brothers gegründet haben. Die erste Platte der Barr Brothers haben wir etwa 2009 fertiggestellt und 2010 selbst veröffentlicht, bevor sie dann 2011 bei Secret City erschienen ist. Zu diesem Zeitpunkt war ich 36 Jahre alt und wir hatten zuvor bereits eine ganze Karriere mit unserer Band The Slip hinter uns. Ich gehe nicht davon aus, dass viele Leute diesen Teil unserer Geschichte kennen, aber die Songs, die du erwähnt hast, sind nicht weit von dem entfernt, was wir in dieser Band gemacht haben. Diese neue Platte ist vielleicht sogar näher an unseren Wurzeln als alle anderen Barr-Brothers-Alben. Viele Leute, die The Slip kannten, waren schockiert, als wir anfingen, Folk-Musik oder etwas, das man als Folk-Musik bezeichnen könnte, zu veröffentlichen, weil sie uns als eine Art progressive Avantgarde-Fusion-Jazzrock-Band kannten und es für sie eine Überraschung war, als wir begannen, Musik mit Akustikgitarren herauszubringen. Nur am Rande: Für mich war es damals wichtig, mich beim Songwriting von den ausufernden Sound-Jams zu lösen, und ich bin froh, dass dies dazu beigetragen hat, den Stil der Barr Brothers zu definieren.
GL.de: Lass uns ein wenig über die Texte sprechen. Wonach suchst du als Texter heute?
Brad Barr: Das Texten ist der Teil des Prozesses, der mir am meisten Mühe bereitet. Deshalb hoffe ich darauf, dass etwas Unbewusstes zum Vorschein kommt. Ich weiß, dass ich etwas Gutem auf der Spur bin, wenn mir das Unterbewusstsein etwas schenkt, dessen Faden ich weiterspinnen kann, bis ich das Gefühl habe, dass ich und andere Menschen sich damit identifizieren können, ohne dass meine spezifischen Erfahrungen dem im Weg stehen. Also versuche ich, meine Erlebnisse und Erfahrungen für all diejenigen nachvollziehbar zu machen, die ähnlich fühlen, auch wenn die Umstände andere waren.
GL.de: Zum Schluss: Träume und Hoffnungen für dieses Album?
Brad Barr: Das Album hat meine Träume, Hoffnungen und Erwartungen bereits übertroffen. Allein die Tatsache, dass ich mir anschauen kann, wie es dort drüben steht, mit dem Cover, das meine Frau entworfen hat, und dass wir ein großartiges Team von Leuten haben, die daran arbeiten, allein die Tatsache, dass diese Songs die Ziellinie erreicht haben und ich mich zurücklehnen und damit zufrieden sein kann, ist vielleicht schon genug. Ich muss gestehen, ich verstehe die Musikindustrie und den Geschmack der Menschen nicht. Ich glaube nicht, dass die Welt unbedingt weiß, was sie von Musikern erwartet. Deshalb möchte ich einfach mein Bestes geben für meinen Bruder, für alle, mit denen ich Musik mache, für meine Familie und meine Freunde und für alle, die unsere Musik hören. Die einzige Erwartung, die ich habe, ist, dass ich einfach weiterhin der beste Mensch bin, der ich sein kann, und ich glaube tatsächlich, dass ich alles bekomme, was ich brauche, wenn ich das weiterhin tue.
„Let It Hiss“ von The Barr Brothers erscheint auf Secret City Records/Cargo.