Waren die ersten drei Alben der walisischen Musikerin Gwenno Saunders („Y Dydd Olaf“, „Le Kov“ und „Trésor“) noch eine Art retrospektiver Bestandsaufnahme ihrer Kindheits-Erinnerungen und Coming-of-Age-Erfahrungen – mit denen sie dezidiert über die Wahl der Sprache (Walisisch, Cornish und nur gelegentlich Englisch) den Bezug auf ihre Roots herstellte – so ist das nun vorliegende, vierte Album „Utopia“ ein ganz anderes Biest.
Denn irgendwann wurde Gwenno bewusst, dass ihre musikalische Prägung nicht im heimischen Wales stattfand, sondern in den USA – als sie als Teenagerin als Tänzerin in Michael Flatleys „Lord Of The Dance“-Show in Las Vegas engagiert wurde und dort für zwei Jahre lebte. Da sich Gwenno auf „Utopia“ mit der Phase beschäftigen wollte, die diesem Lebensabschnitt folgte (und damit ihren Weg von der Tochter über die Ehefrau zur Mutter nachzeichnet), kam sie zu dem Entschluss, das neue Werk erstmals überwiegend auf Englisch einsingen zu müssen.
Auch musikalisch gab es einen neuen Ansatz: Auf den ersten Alben arbeitete Gwenno hauptsächlich mit elektronischen Mitteln, die dann mit Folk- und Kraut-Elementen zu eskapistischen Klanggebilden nach Art der Prog-Pop-Elaborate der 70er Jahre verwoben wurden. Um Eskapismus geht es Gwenno auf der neuen Scheibe trotz des Titels „Utopia“ nun aber nicht mehr. Stattdessen kommen die neuen Tracks als vertonte Erinnerungen und Tagebucheinträge daher, die in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Utopia“ – „kein Ort“ – jeder für sich eine in der Realität verankerte Zeitkapsel repräsentieren. Das veranlasste Gwenno, die neuen Songs dann auf eine organische Weise anzugehen und die Stücke zunächst mal auf dem Klavier zu schreiben und dann mit einer Band (und der Unterstützung von Cate Le Bon) einzuspielen.
Das Ergebnis erinnert dann weniger an Gwennos eigene Solo-Alben, sondern an die Zeit, als sie – damals in London – als Sängerin der Pipettes für Retro-Pop-Charme sorgte. Denn tatsächlich überzeugen und überraschen etwa die meisten der neuen Songs durch ein bislang in Gwennos Welt eher unterrepräsentiertes Retro-Pop-Appeal, in dem Psychedelia, 60s Flair, chansonesque Anwandlungen, Dream- und New Wave-Pop fröhliche Umstände feiern. Elektronik und atmosphärische Klangtupferei gibt es auch noch – aber nur noch gelegentlich (etwa beim Titeltrack) und dann auch eher als songdienliche Effekte („War“, „73“ oder „Hiraeth“). Gwennos auf ihren bisherigen Alben immer wieder zur Schau getragener Flirt mit der Monotonie findet gar nicht mehr statt. Dafür überraschen zuweilen Streicher-Arrangements (bzw. Streicher-Sound-Arrangements), die in der als fast sechsminütige Dreampop-Oper vertonten Kindheitserinnerung „St. Ives New School“ zu einem schwelgerischen Instrumental-Finale verdichtet werden.
Eben weil der Longplayer so ganz anders geworden ist als Gwennos bisherige Solo-Arbeiten, weil es hier eine bemerkenswerte kreative Weiterentwicklung zu beobachten gibt – und zuletzt weil es jede Menge brillanter Songs zu bestaunen gibt, ist „Utopia“ Gwennos bislang zweifelsohne ambitionierteste – und zugleich überzeugendste – Arbeit geworden. Vollkommen unverständlich, wieso ausgerechnet dieses Projekt ausschließlich auf digitaler Basis erscheint (während die bisherigen Alben auch physisch verfügbar waren) – und sich somit selbst der künstlerischen Vergänglichkeit aussetzt.
„Utopia“ von Gwenno erscheint auf Heavenly Recordings/PIAS .