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Es gibt Bands, die sind einfach nicht zu überhören: The Red Flags sind eine von ihnen. Auf seinem „Self-Centred And Delusional“ betitelten Debütalbum setzt das junge Quartett aus Köln genau da an, wo die Musikhistorie zwischen Nirvana, Hole und den Pixies oder auch zwischen The Raincoats, The Slits und Bikini Kill noch die ein oder andere Lücke hat, und trägt den Sound von gestern mit viel Herzblut in die Gegenwart. Laut, roh und wild überrollen Polly, Murphy, Joe und Mika ihr Publikum mit punkiger Aggressivität, grungiger Wucht und wütenden Riot-Grrrl-Vibes, wenn sie antikapitalistisch, kritisch und feministisch ihre Gedanken, ihre Ängste und ihren Zorn in sendungsbewussten Texten über Sexismus, Identität, soziale Ungleichheit, Leistungsdruck oder mentale Gesundheit kanalisieren. Festivalauftritte gibt es den ganzen Sommer über, eine erste eigene Tournee ist auch in Planung.
Gestartet als Schulband, die bei ihren ersten Auftritten mehr schlecht als recht ein paar Coverversionen spielte, hatten The Red Flags trotz des zunächst noch überschaubaren instrumentalen Könnens von Beginn an so viel Spaß am gemeinsamen Musikmachen, dass Aufhören keine Option war. Nicht viel später konnten die vier Abschlussfeiern und Oberstufenpartys gegen Auftritte in echten Clubs und erste DIY-Singleveröffentlichungen eintauschen, bevor ein glücklicher Zufall letztes Jahr für einen unerwarteten Karriereschub sorgte: Eigentlich hatte Schlagzeugerin Mika nur die Aufzeichnung von Jan Böhmermanns „Magazin Royal“ live im Studio miterleben wollen, aber letztlich katapultierte das „Lass dich überwachen“-Format des Satirikers die Band erst in dessen Sendung und dann für einen Gastauftritt vor 80.000 Menschen auf die Bühne bei Rock am Ring. Einen Gutschein für eine Single-Aufnahme mit Tausendsassa Moses Schneider (Tocotronic, Turbostaat, Beatsteaks) gab es noch obendrauf.
Aus der Single wurde dann gleich ein ganzes Album mit Schneider auf dem Produzentenstuhl, aufgenommen innerhalb weniger Tage mit herrlicher Live-Intensität und ohne den heute eigentlich allgegenwärtigen, Perfektion suggerierenden Clicktrack. Entstanden ist dabei eine Platte, die in Songs wie „Little Girl“ oder „Central Station“ die raue Punk-Energie einfängt, die The Red Flags bei ihren Auftritten verströmen, bei „I’m Just A Kid“ oder dem heimlichen Highlight des Albums, „Made Of Glass“, aber auch ein feines Händchen für poppige Melodik offenbart und beim knapp siebenminütigen Schlusssong „Solar System“ zwischen Psychedelik und Grunge zeigt, dass die vier auch ein Faible für das Spiel mit der Dynamik zwischen laut und leise haben. Makellos ist das Album nicht, aber das war auch nie das Ziel. Vielmehr ging es den Red Flags darum, ihre Gefühle, ihre Message so echt, so direkt, so unverstellt wie möglich festzuhalten – und in dieser Hinsicht trifft „Self-Centred And Delusional“ voll ins Schwarze.
Wir trafen die Band der Stunde nach ihrem Auftritt bei der c/o pop in ihrer Heimatstadt Köln zum Interview.
GL.de: Um ganz allgemein anzufangen: Welche Rolle spielt die Musik in eurem Leben?
Joe: Eine sehr große! Ob das Musik machen oder hören ist – ich glaube, es gibt nicht einen Tag, an dem Musik keine Rolle spielt.
Mika: Die Musik ist ja auch etwas, durch das man Emotionen stark wahrnehmen und fühlen kann. Bei mir ist es auch so: Es gibt bestimmte Artists, die ich zu verschiedenen Zeiten sehr gerne gehört habe, und wenn ich heute dann die Musik aus der Zeit höre, versetzt mich das sofort zurück in diese Gefühlslage – und das ist beim Musikmachen ähnlich.
Murphy: Die Musik ist natürlich auch ein Ventil, um seine eigenen Emotionen rauszulassen und zu verarbeiten.
Polly: Ja, vor allem ist es auch sehr intuitiv. Dass man anfängt, Musik zu machen, kommt ein bisschen aus einem Inneren Drang heraus. Ich habe das schon immer ein bisschen gemacht, einfach, weil das Bedürfnis da war.
GL.de: Würden wir heute hier sitzen und über eure Debütalbum sprechen, wenn ihr nicht durch Zufall in der Böhmermann-Sendung gelandet wäret?
Alle: Ja! Vielleicht ein bisschen später – oder in einer anderen Form.
Murphy: Es war ja tatsächlich so, dass wir zu dem Zeitpunkt, an dem wir diesen Recording-Gutschein bekommen haben, eigentlich schon einen festen Plan hatten, unser Debütalbum aufzunehmen, wenn auch halt unter sehr anderen Voraussetzungen und natürlich nicht mit Moses Schneider. Das war ja letztendlich auch der Grund, warum sich Moses entschieden hat, mit uns nicht nur eine Single, sondern ein ganzes Album aufzunehmen, weil wir ihm gesagt haben: „Hey, die eine Single passt eigentlich gar nicht so gut in unseren Release-Plan!“ Ich glaube, das fand er so cool, dass das dann passiert ist. Deshalb hätten wir in jedem Fall jetzt oder bald ein Album gehabt.
Mika: Natürlich hat alles, was danach passiert ist, natürlich sehr viel mit Rock am Ring und Jan Böhmermann zu tun gehabt, allerdings wir haben ja auch davor schon total viele Konzerte gespielt, Singles rausgebracht und uns dann so ein bisschen dahintergeklemmt.
Murphy: Ich habe das Gefühl, das Hauptding ist vor allem, dass wir im Rahmen dieser Sendung Leute kennengelernt haben, die uns cool fanden, mit denen wir zusammenarbeiten konnten und die uns weitergebracht haben. Es war also weniger der Auftritt an sich, sondern eher das Networking, was da stattgefunden hat.
GL.de: Nun habt ihr mit Fernsehauftritten und Rock am Ring schon Highlights erlebt, die für viele andere Bands für immer ein Wunschtraum bleiben – was darf denn in Zukunft noch passieren?
Polly: Also, irgendwann mal so ein eigener Proberaum, den man sich nicht teilen muss und bei dem es keinen Stress mit Nachbarn gibt und man einfach mal Freiraum hat… und ein Weihnachtsalbum (allgemeines Gelächter)
Mika: Ich glaub, für mich sind es eher viele kleinere Sachen, so etwas wie: Dass man nicht mehr so auf Finanzielles angewiesen ist und ein Konzert nicht wegen des Geldes zusagt, sondern weil es ein cooles Standing hat, oder auch, dass wir so etwas wie FLINTA*-only-`Konzerte anbieten können, was für uns im Moment einfach noch nicht möglich ist.
Murphy: Man muss ja auch sagen: Das Rock-am-Ring-Ding war natürlich schon krass, aber es ist natürlich schon ein Traum, dass wir irgendwann dort mal auf der großen Bühne spielen können und dann Leute kommen, weil sie wirklich uns sehen wollen. Diese Erfahrung hatten wir natürlich noch nicht. Für mich wäre es auch ein Traum, vielleicht einfach mal eine Headliner-Show auszuverkaufen, auch wenn es eine kleine ist. Das ist einfach noch schöner, weil die Leute für uns da sind. (Randnotiz: Dieser Wunsch ist inzwischen in Erfüllung gegangen, denn für die Release-Show im Kölner Sonic Ballroom am 30. Mai gab es schon eine Woche vor dem Konzert keine Karten mehr.)
GL.de: Während viele andere junge Acts heute so klingen, als habe die Musikhistorie 2016 angefangen, merkt man eurem Album an, dass ihr deutlich tiefer eingetaucht seid. Was inspiriert euch?
Joe: Bei mir kommt sehr viel Inspiration aus der She-Punk-Szene der 70er, aber generell die ganze Entwicklung des Female-fronted-Punk ist für mich sehr inspirierend.
Polly: Wir sind ja in erster Linie schon an der klassischen 90s-Grunge-Szene orientiert, auch was den Produktionsstil des Albums angeht, aber auch beim Songwriting und bei all dem, was wir verkörpern wollen.
GL.de: Was macht für euch den Reiz dieser alten Sachen aus, dass ihr euch daran orientiert und eben nicht an Musik, die heute aktuell ist?
Mika: Ich finde, die ganze Grungebewegung damals war halt so authentisch, so echt und irgendwie unverstellt und natürlich auch schon davor die Punk-Bewegung. Das ist etwas, was ich sehr wichtig finde und was wir auch haben wollen, diese Authentizität.
Murphy: Seitdem gibt es einen totalen Trend dazu, dass Musik immer perfekter werden muss und immer glatt gebügelter. Heutzutage gibt es ja eigentlich kaum Musik, die aktuell rauskommt und bekannt ist, die nicht perfekt auf Click eingespielt ist. Ich glaub, das zieht uns total zu den alten Sachen hin: Es einfach authentisch zu machen und ganz bewusst gegen den Trend zu gehen.
Polly: Dazu muss man sagen (und ich glaube, da kann ich für uns alle sprechen): Als wir angefangen haben, diese Musik zu hören, hatten wir keine Ahnung, wie das produziert ist, und hätten nicht sagen können, warum das für uns besser klingt, aber es ist einfach eine ganz andere Form von Gefühle-Rüberbringen, weil es so echt ist und so roh und viel mehr zu Herzen geht als die aktuelle Popmusik. Dazu kommt natürlich auch die ganze Ästhetik, die Visuals und dass man so edgy sein kann, so dreckig, und dass man sich auch aktiv abgrenzt von gesellschaftlichen Normen. Das ist ja das ganze Ding bei alternativer Musik, und ich denke, das ist einfach etwas, mit dem wir uns alle schon immer so ein bisschen verbunden gefühlt haben.
GL.de: Ihr habt eben schon erwähnt, dass ihr euer Album mit Moses Schneider aufgenommen habt. Gab es bestimmte Lektionen, die ihr während der Aufnahmen gelernt habt, von denen ihr glaubt, dass sie euch auch in Zukunft weiterhelfen werden?
Joe: Für mich habe ich gelernt, dass es eine Daseinsberechtigung fürs Fehlermachen gibt, dass es kein Weltuntergang ist, wenn mal ein Ton nicht sitzt. Ich glaube, das ist etwas, das mich immer begleiten wird.
Mika: Nachdem wir einen Take aufgenommen haben, hat Moses nie gesagt: „Das war super“ oder „Das war perfekt“, sondern er hat immer so etwas gesagt wie: „Die Version hatte ein breites Lächeln“ oder „Das war super-charmant“. Da hat man gemerkt, dass es nicht darum geht, dass es perfekt ist, sondern darum, dass man uns hört und dass es authentisch ist.
Murphy: Eine wichtige Sache, die ich gelernt habe, ist auch, dass Moses den allerbesten Bass-Sound produziert!
Die anderen: Das hat er uns gesagt (allgemeines Gelächter)!
Murphy: Ja, er war ein großer Fan davon, wie der Bass auf dem Album klingt!
Polly: Ich habe unglaublich viel von Moses gelernt – vermutlich nahezu alles, was ich über Produktion weiß – weil er einfach jemand ist, der uns bei dem Prozess total mitgenommen hat und uns erklärt hat, was er macht und warum es klingt, wie es klingt, und was das so geil macht. Er hat uns da voll mitgenommen, damit wir das verstehen und diese Reise mitbegleiten und auch selbst sagen können, was wir für unsere Alben haben wollen. Eine total faszinierende Sache ist auch: Er ist eine Größe in der Musikbranche und ein superrenommierter Produzent. Man erwartet dann eine total professionelle Person, und er kommt dann da mit seiner Jogginghose und ist auf Socken im Studio und ist der entspannteste Typ. Da kann man dann echt einfach man selbst sein und muss gar nicht auf Zwang in ein professionelles Arbeitsumfeld gehen. Es war total locker und ich fand das sehr interessant, dass jemand, der so erfolgreich ist und so professionell arbeitet, da so entspannt rangeht und einfach nur Spaß hat.
GL.de: Das Album hat ein durchaus breites Klangspektrum. War das eine Entwicklung von Punk und Grunge hin zu mehr Melodie oder gab es das von Anfang an schon beides?
Polly: Ja und nein. Als wir angefangen haben, war das ja alles ein bisschen improvisiert, und zuerst haben wir ja auch Cover gespielt. Irgendwann hieß es dann: Okay, wir probieren mal einen eigenen Song. Vor allem ich, aber auch Murphy, wir hatten so ein paar Sachen, das waren halt so Songs, wie man sie Singer/Songwriter-mäßig allein mit der Gitarre in seinem Schlafzimmer schreibt. Die waren sehr poplastig, und deshalb haben wir super-soft angefangen und haben dann so ein bisschen einen Prozess gestartet: Okay, was wir so hören, ist eigentlich viel härter, wie kommt man da hin? Tatsächlich ist der einzige Song aus dieser Anfangszeit, der es noch mit aufs Album geschafft hat, „I’m Just The Kid“, und sonst spielen wir auch live gar nichts mehr aus der Ära. Auf dem Album sind Songs, die insgesamt über drei Jahre hinweg geschrieben worden sind, und es ist auf jeden Fall schon so, dass das Album zeigt, dass wir mit softeren Sachen angefangen haben und es dann immer mehr in Richtung Grunge und Punk gegangen ist.
Murphy: Wir haben auch nicht den Wunsch, jetzt nur noch superharte Sachen zu machen. Ich glaube eher, dass wir uns jetzt, da wir diese Reise in Richtung der Musik, die wir cool finden, gemacht haben, auch wieder mehr erlauben werden, mal was Sanfteres zu machen.
Polly: Als wir angefangen haben, Gigs zu spielen, kamen wir oft in Venues und waren da die einzigen Frauen. Damals waren wir ja auch erst 17,18, da ist man eh schon ein bisschen verunsichert und will sich beweisen. Man fragt sich dann so ein bisschen: Wie können wir musikalisch zeigen, dass wir hier hingehören, dass wir hier einen Platz verdient haben? Ich glaube, dass wir härter geworden sind und auch superlaute Sachen gemacht haben, war unser Weg zu zeigen, dass wir keinen Klischees entsprechen. Wir wollten da nicht reinkommen und die softeste Band sein. Das ist natürlich auch irgendwie bescheuert, denn das wäre ja gar nicht falsch gewesen, aber unabhängig von unseren Einflüssen, die natürlich auch da waren, wollten wir uns einfach ein bisschen Gehör verschaffen, indem wir immer lauter geworden sind.
GL.de: Obwohl die Platte innerhalb weniger Tage eingespielt wurde und wunderbar direkt klingt, war sie trotzdem kein Schnellschuss…
Polly: Genau! Ich glaube, der jüngste Song auf dem Album war über ein halbes Jahr alt, als wir ihn aufgenommen haben, und das macht es für mich besonders: Dass die Songs Zeit hatten auszureifen und wir mit fertigen Versionen ins Studio gegangen sind.
Murphy: Als wir im Studio waren, haben wir an keinem Song mehr etwas verändert, außer bei „Solar System“. Bei dem Basssolo gab es Sachen, die noch nicht ganz sicher waren, weil wir das einfach noch nie genau so gespielt hatten. Das war die einzige Krise, die wir im Studio hatten, weil wir uns da am letzten Tag spontan noch etwas überlegen mussten, aber bei allen anderen Songs haben wir das vorher so durchgeplant, dass wir an dem Punkt waren, wo wir die volle Zufriedenheit erreicht hatten.
GL.de: Heißt das, dass sich auf der Platte jetzt die definitiven Versionen der Lieder finden?
Polly: Ich habe ein bisschen Angst davor, dass ich die Songs, wenn das Album draußen ist, irgendwann noch mal höre und denke: Scheiße, das wäre richtig geil gewesen, wenn man es anders gemacht hätte! Aber ich glaube, man muss einfach lernen, zu dem Werk zu stehen.
Mika: Dass wir unsere Instrumente noch nicht so lange spielen und uns dadurch in kurzer Zeit noch sehr, sehr stark verändern, kann schon ein bisschen schwierig sein. Manchmal höre ich das Album und denke: Oh, das war jetzt aber gar nicht mal so gut gespielt! Aber man muss dann auch sagen können: Okay, das ist halt eine Momentaufnahme. Das hat trotzdem eine Daseinsberechtigung und ist trotzdem gut so, wie es ist.
GL.de: Abgesehen davon ist es ja auch ein Trugschluss, dass größeres Können zwangsläufig zu besseren Platten führt!
Polly: Deshalb war es uns ja auch wichtig zu priorisieren, dass die Energie da ist. Als wir Moses gesagt haben, dass wir zwölf Songs haben, die aufs Album sollen, meinte er: „Nee macht mal zehn!“
Mika (lachend): „Macht mal ’ne EP!“, war der erste Vorschlag!
Polly: Genau! Er hat gesagt, wir sollen lieber eine EP machen, damit wir uns richtig auf die Songs konzentrieren können und sie auch wirklich gut werden. Um fair zu sein, kannte er uns zu dem Zeitpunkt noch nicht, hatte uns noch nie spielen gehört und kannte auch die Songs nicht. Wir haben dann gesagt: „Nee, wir wollen schon ein Album!“ – „Okay, dann aber nicht zwölf Songs, sondern zehn!“
Murphy: Er hat gesagt: „Überlegt euch schon mal zwei, die ihr rauswerfen könnt.“
Polly: Das Ding war nämlich, dass wir ja nur vier, fünf Studiotage hatten und Moses meinte, dass sei schon supersportlich für zwölf Songs, wenn man sie mit der ganzen Band live aufnimmt, weil man eben nicht von allen den besten Take nehmen kann – es muss zusammen rund sein. Wir haben ihm dann alle Songs vorgespielt und mit ihm geprobt, und danach haben wir ihn gefragt: „Ja was meinst du denn, welche Songs wir vielleicht nicht machen sollten, wenn es hart auf hart kommt?“ Er meinte dann nur: „Wir gehen jetzt all-in und machen alle zwölf, weil die alle geil sind! Wenn ihr sagt, ihr wollt die zwölf auf dem Album haben, dann muss das funktionieren.“ Es war dann auch gar nicht so stressig, das in der Zeit hinzubekommen. Wir haben dann einfach für jeden Song ein paar Takes gemacht, bis das Gefühl richtig war. Ob dann da mal etwas ein bisschen schräg, ein bisschen untight war – das war dann nicht so schlimm.
GL.de: Auch textlich bezieht ihr klar Stellung und schlagt dabei den Bogen vom Persönlichen zum Politischen. Wonach sucht ihr beim Texten?
Polly: Es kommt voll auf den Song an. Es gibt Songs, wo man einfach all das reinpackt, was man in einer bestimmten Situation empfindet, und dann muss das einfach raus, und das sind dann die ganzen Lyrics. Dann gibt es aber auch Sachen, gerade wenn man sie über politische Themen schreibt, wo man sich hinsetzt und denkt: Okay, dieses Thema macht mich wütend und ich würde da gerne was zu schreiben. Dann ist es vielleicht ein bisschen bewusster, weil man sich natürlich auch Gedanken macht: Was möchte ich gern zu dem Thema sagen, was ist mir wichtig? Ich glaube aber, das ist mehr ein Prozess des Findens als des Suchens.
GL.de: Bedeutet das, die emotionalen Lieder entstehen schnell und die mit mehr Botschaft langsamer?
Polly: Bei den Texten ist das auf jeden Fall sehr unterschiedlich.
Murphy: Es gibt auch Songs, bei denen wir zusammen die Texte fertiggestellt haben und die ganz lange gebraucht haben, weil wir uns dachten: Diese Message müssen wir wirklich auf den Punkt bringen. Deswegen hat es manchmal lange gedauert, bis wir etwas Perfektes gefunden haben. Dann gibt es aber auch Songs, wo man einfach drauflos schreibt und dann eventuell so viel Text hat, dass man am Ende etwas kürzen muss, weil der Songs sonst zehn Minuten lang wäre (lacht)!
Polly (die sich offenbar angesprochen fühlt): Manchmal hat man einfach noch nicht zu Ende geredet (lacht)!
GL.de: Dann gibt es aber auch einen Song wie „Little Girl“, wo ganz viel Text in einen der kürzesten Songs der Platte passt…
Polly: Ja, aber das ist einer gewesen, wo das meiste wirklich direkt zusammengekommen ist. Es gibt aber auch ganz viele Projekte, wo man einfach über Monate dransitzt, weil man eine bestimmte Emotion oder einen gesamtgesellschaftlichen Umstand mit zwei, drei Zeilen perfekt auf den Punkt bringen möchte.
GL.de: Geht es dabei allein darum, diese Themen für euch selbst aufzuarbeiten, oder geht es darum, eine Art von Veränderungen anzustoßen? Kann Musik die Welt verändern oder zumindest im Kleinen etwas bewegen?
Polly: Ich denke schon, dass Musik was bewirken kann, weil politische Texte ja auch zum Denken anstoßen und vielleicht Leute mobilisieren können. Ich kenne das von vielen Leuten – und das ist bei mir auch nicht anders –, dass man teilweise seine politischen Ansichten oder Erkenntnisse über gesellschaftliche Zustände aus Musik zieht, die diese Themen anspricht. Deshalb kann das einen Effekt haben, aber es ist natürlich nicht genug. Ich glaube, dass Musik vor allem zum Denken anregt, aber dann muss natürlich trotzdem noch gehandelt werden. An der Stelle muss man aber auch sagen: Auch wenn es das jetzt vielleicht schon länger nicht mehr gegeben hat – eine Subkultur ist ja auch ein Movement, und eine Grunge-Bewegung oder eine Punk-Bewegung, selbst wenn es keine direkte politische Wirkung hat, schon mehr aussagen kann als ein Songtext, indem man ganze Gruppen bildet von Menschen, die für bestimmte Dinge einstehen und die das nach außen hin auch so repräsentieren und zeigen. Das kann durch Musik total vorangebracht werden.
Murphy: Was unsere Intention angeht: Ich glaube, der Wunsch, etwas zu verändern, ist auf jeden Fall bei uns allen da. Ich denke, es ist halt immer so eine Frage, ob man sich erhofft, dass wirklich Leute durch unsere Texte ihr Mindset verändern,. Aber an sich ist schon der Gedanke da, mehr machen zu wollen, als das nur zu verarbeiten, sondern auch Leute zum Denken anzuregen.
GL.de: Ist das auch eine der Gründe, warum ihr in der Vergangenheit des Öfteren mit Bands wie Tocotronic oder Turbostaat aufgetreten seid, deren Publikum aus einer anderen Generation stammt?
Joe: Ich glaube, gerade die Fans von Tocotronic sind eh alle schon sehr links, aber auf jeden Fall geht es darum, noch mal eine neue Stimme reinzubringen, und ja, so ein bisschen die neue Generation zu sein, die es noch mal wiederholt und sagt: „Hey, das Problem ist immer noch da, hört immer noch zu und bleibt dran!“
Polly: Es geht auch darum, eine weibliche Perspektive in linke Musik und in linke Texte zu bringen. Es gibt mit Sicherheit auch super Songs von männlichen Künstlern, die über Sexismus sprechen, aber es ist ja kein Geheimnis, dass in der Rockmusik Frauen nicht unbedingt super repräsentiert sind. Wenn es um Inhalte geht, dann ist natürlich schon wichtig, dass alle etwas sagen können, und das ist dann natürlich auch schon ein Anliegen.
GL.de: Wer sollte denn unbedingt die Finger von eurer Musik lassen?
Joe: Nazis!
Alle: Ja, das trifft es sehr gut!
Murphy: Ich habe das Gefühl, dass die Zielgruppe ansonsten doch sehr groß ist!
Polly: Leute, die einfach absolut nicht offen sind für jegliche linke Ideen und linke Inhalte oder überhaupt für Ideen von Gleichstellungen oder Progressivität – für die Leute ist unsere Musik auf jeden Fall nichts.
GL.de: Letzte Frage: was macht euch gerade besonders glücklich?
Murphy: Ich glaube, für mich ist es unser Team. Wir haben ja gestern in Hamburg gespielt, und da war eine von unserem Management da und auch die Chefin von unserem Label und unsere Tontechnikerin. Als wir da alle zusammen in einem Raum gesessen haben, hat man sich so angeguckt und dachte: Boah, wir arbeiten mit so tollen Menschen zusammen! Das ist halt auch irgendwie schön zu sehen, dass wir sehr weiblich geprägt sind, was ja sehr selten ist in der Szene, und einfach mit so vielen Leuten zusammenzuarbeiten, mit denen man sich so wohlfühlt, und dass das Geschlecht in der Zusammenarbeit gar kein Thema ist. Wenn man sich andere Teams anguckt, da ist es immer ein Thema, wenn mal eine Frau dabei ist. Ich bin einfach sehr glücklich, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten!
Polly: Es ist natürlich einfach schön, dass so die eigene Kunst Gehör finden kann und dass man sich darauf freuen kann, dass Leute daran teilhaben können, wenn das Album erscheint. Es ist so krass, dass etwas, was man aus einer Emotion heraus gemacht hat, was das eigene Werk ist, dann da draußen ist.
Mika: Für mich ist es auch, auf der Bühne zu stehen und live zu spielen, weil man vom Publikum so viel zurückbekommt. Es ist einfach schön, seine Emotionen auf der Bühne rauslassen zu können.
Joe: Für mich ist es einfach ein Mix aus allem. Das ist mir heute auf der Zugfahrt auch noch mal aufgefallen. Früher habe ich gedacht: Okay, ich studiere und dann habe ich irgendeinen akademischen Titel und das ist so der Lebensplan, bis ich irgendwann in Rente gehe. Es war nie so eine bewusste Option, dass ich auch was machen kann, woran ich wirklich Spaß habe und wo ich voll mit dem Herzen dabei bin. Irgendwie saß ich heute im Zug und hab ein bisschen an Band-Orga-Kram gearbeitet, und ich war einfach so glücklich, weil ich das mache, worauf ich Bock habe, und mir macht das Arbeiten Spaß! Ich wusste nicht, dass das eine Option ist!
Polly: Um da noch einmal eine andere Perspektive zu geben: Ich wollte das schon immer machen. Ich habe schon vor sechs, sieben Jahren gesagt, dass das Musikmachen das Einzige ist, was ich mir für mein Leben vorstellen kann, weil dieser Drang, dieses Bedürfnis, diese Kunst in dieser Form zu machen, einfach so stark ist. Deshalb fühlt es sich auch einfach richtig an, wenn sich Dinge ergeben und wir merken, dass es da diese Chancen gibt: dass wir ein Team aufbauen können, dass wir ein Album aufnehmen können. Weil ich das schon immer so gesehen habe, dass das die Welt ist, in die ich gehöre, ist das fast wie ein Nach-Hause-Kommen.
„Self-Centred And Delusional“ von The Red Flags erscheint auf Audiolith/Broken Silence.